Ishiguro, Kazuo: Klara und die Sonne

In „Klara und die Sonne“ widmet sich der 1954 geborene Kazuo Ishiguro einem brisanten und interessanten Thema: der künstlichen Intelligenz.

In Ishiguros dystopischer Welt, die im ländlichen Amerika spielt, gibt es künstliche Freunde.
„KFs“ nennt man sie.
Letztlich sind es programmierte menschenähnliche Roboter.

KFs sollen die Aufgaben und Funktionen echter und lebendiger Freunde nachahmen bzw. ersetzen.
Sie sollen Kindern Gesellschaft leisten, ihnen die Zeit vertreiben und sie ins Erwachsenenleben begleiten.

Klara ist eine solche KF.
Sie befindet sich entweder im Hinterraum des Ladens, in dem sie verkauft wird, oder sie wird im Schaufenster ausgestellt, was ihr besonders zusagt, weil sie dort von der Sonne gewärmt wird. Hier wartet sie darauf, auserwählt zu werden.
Von ihrer Position aus beobachtet sie das Geschehen vor dem Fenster, die Passanten, die Autos und die Obdachlosen.

Klara wird schließlich von der 13-jährigen Josy als Begleiterin ausgewählt.
Josy ist schwer krank und viel allein. Ihre Eltern haben sich getrennt und ihre Mutter hat vor lauter Arbeiten nur wenig Zeit.
Da kommt so eine KF, die sich eifrig um ihr Mündel kümmert, gerade recht.
Die beiden Mädchen leben von nun an mit Josys Mutter und der resoluten Haushälterin Melania in einem recht abgelegen Haus.

Das Interessante ist, dass wir in diesem Roman in Klaras „Haut stecken“.
Wir betrachten die fremdartige und kühle dystopische Welt des Romans durch ihre Augen, also durch die aufmerksamen Augen einer künstlichen Intelligenz, die sehr lernfähig ist und aufgrund ihres letztlich doch begrenzten Wissens Schlüsse zieht, die manchmal irrwitzig und wunderlich anmuten. Der für diese Geschichte entscheidende irrwitzige und wunderlich anmutende Schluß von Klara ist, dass die Sonne, wenn sie gnädig ist, eine besondere Gabe zu verschenken hat.

Am Anfang sehen und verfolgen wir die Geschehnisse vor dem Schaufenster und nachdem Klara gekauft wurde, beobachten wir die spärlichen Beziehungen von Josy z. B. zu ihrer vielbeschäftigten Mutter oder zum 15-jährigen Nachbarjungen Rick, der im Gegensatz zu Josy zu den „Ungehobenen“ gehört.
Spärliche Beziehungen, weil es aufgrund des online Unterrichts bei Bildschirmprofessoren keine Klassenkameraden gibt, mit denen sich Josy täglich trifft.
Interaktionen mit Gleichaltrigen kommen, abgesehen von Rick, nur bei aufwendig organisierten Interaktionsmeetings zustande.

Bald wird erkennbar, dass Arbeit die Regel, aber zwischenmenschlicher Umgang nicht selbstverständlich ist.
Schule findet nicht mehr als Präsenzunterricht statt und der Stellenwert der Natur ist deutlich gesunken.

Der britische Literaturnobelpreisträger Ishiguro erzählt sehr unterhaltsam, kurzweilig, gleichermaßen feinfühlig wie neutral-distanziert sowie völlig unaufgeregt.
Er nimmt sich Zeit.
Die Geschichte um Klara darf sich entfalten.

Die ersten 2/3 der Geschichte empfand ich unterhaltsam und interessant, aber nicht besonders im eigentlichen Sinn.
Ich fragte mich oft, was Kazuo Ishiguro dem Leser mit diesem Werk eigentlich sagen möchte.

Und genau das wird dann schlagartig klar:
Wie so oft in der Geschichte, besucht die kranke Josy einen Maler, dem sie Modell sitzen soll.
Zu dieser Sitzung dürfen wir sie begleiten und genau hier werden wir mit einer Ungeheuerlichkeit überrascht.
Jetzt wird’s plötzlich tiefgründig, bewegend und berührend.
Ein Sog macht sich breit und aus dem „netten Buch“ wird ein Pageturner, der emotional anspricht und zum Nachdenken anregt.

Kazuo Ishiguro setzt sich über Klaras kindliches Denken und ihre wissbegierigen Beobachtungen mit tiefgründigen Themen und brisanten Fragen, die mit künstlicher Intelligenz und Mensch-Sein verbunden sind, auseinander. Ist der einzelne Mensch einzigartig oder kann er ersetzt werden?

Letztlich geht es darum, was das Mensch-Sein ausmacht.
Emotionen, Bewusstsein, Denken, ethisches und moralisches Handeln, Identität, Individualität – das sind Schlagwörter, mit denen sich Kazuo Ishiguro in seinem neuen Werk implizit beschäftigt.

Implizit, d. h. zwischen den Zeilen und unaufdringlich.
Man kann den Roman also als bloße Science-Fiction-Unterhaltungsliteratur genießen oder ihn auf einer tieferen Ebene als Reflexionsgrundlage sehen und Gedankenanstöße aufgreifen und weiterspinnen.

„Klara und die Sonne“ ist ein gelungener Roman, der zum Nachdenken anregt und gut unterhält.
Ich habe ihn in wenigen Tagen verschlungen und empfehle ihn gerne weiter.

An „Was vom Tage übrig blieb“ reicht „Klara und die Sonne“ nicht heran. Deshalb und weil es doch recht lang dauert, bis das Buch seine Tiefgründigkeit entfaltet, vergebe ich nur 4 von 5 Sternen.

4/5 ⭐️

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