Vom Leben und Sterben der geliebten und bewunderten Ehefrau…
Der nur 144-seitige Roman, der sich wie ein ausführlicher Brief eines Vaters an seine Tochter liest, spielt Mitte der 1970-er Jahre in einem spanischen Dorf.
Der Ich-Erzähler Nicolás, ein dem Alkohol und Valium nicht abgeneigter Maler, sitzt wie jeden Morgen am Giebelfenster seines 200 Jahre alten, restaurierten Landhauses, beobachtet das Dorfleben und lässt seinen Erinnerungen freien Lauf.
Er hatte gerade Besuch von seiner Tochter Ana, die kürzlich aus einer monatelangen Haft entlassen worden ist.
Nachdem sie ihn verlassen hat, wendet er sich in Gedanken nochmals an sie und erzählt ihr detailliert von seiner Frau (auch Ana), ihrer Mutter, die er mit 16 Jahren kennengelernt hat.
Er verliert sich in Lobpreisungen. Er idealisiert und vergöttert seine Frau Ana.
Zwischen den Zeilen wird aber schnell klar, dass es weit mehr als eine uneingeschränkte Liebeserklärung ist.
Melancholie und Bedrohlichkeit durchziehen den Text und es wird mit der Zeit deutlich, dass Nicolás sich durch die vermeintliche Vollkommenheit seiner Frau erniedrigt und abhängig fühlt und dass ihre unbändige Lebensfreude und Souveränität seine Selbstzweifel und Ängste verstärkt haben.
Nicolás geht in seinen gedanklichen Ausführungen auch auf seine Ehe und den Alltag der kinderreichen Familie ein.
Wir erfahren von Schaffenskrisen des Malers, von seiner Eifersucht auf ein Bildnis seiner Frau, von der Zeit, in der sie sich um ihr erstes Enkelkind kümmern mussten, von einem Auslandssemester in Washington und schließlich auch vom Leidensweg seiner Frau, die mit erst 48 Jahren schwer erkrankte.
Im Verlauf der Lektüre entsteht das Portrait einer religiösen, aber nicht bigotten, beherzten, anpackenden, couragierten und entschlossenen Frau mit Takt- und Feingefühl, gutem Geschmack und Sinn für Schönheit, Durchsetzungsvermögen, Diplomatie und Originalität.
Seine Frau Ana hat mit ihrer phantasievollen, aufgeweckten und unbeschwerten Art sein Leben bereichert und seinen Horizont erweitert. Sie war eine Frau, die die Fäden in der Hand halten wollte und die Hosen anhatte. Sie war diszipliniert, liebte das Lesen und „hatte einen Heißhunger auf den gedruckten Buchstaben.“ (S. 19). Ana war eine starke und menschenliebende Frau, die Gebrechlichen half und ihren Mann bei seiner Karriere unterstützte. Sie strotzte vor Lebensfreude und übte auf ihr Umfeld eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus…aber sie war, das lässt sich unschwer aus den Worten des Malers heraushören, auch sehr eigensinnig, äußerst anspruchsvoll, bisweilen auch sehr kontrollierend und grenzüberschreitend.
Kurzum: ziemlich anstrengend!
Der Autor schreibt unaufgeregt, nüchtern, offen und gnadenlos ehrlich. Es ist eine schöne, wohlformulierte und poetische Sprache.
Manche Sätze „musste“ ich mehrmals lesen, weil sie wie Zucker auf der Zunge zergingen.
Ein Beispiel: „Die Unmöglichkeit, sich die Vergangenheit noch einmal vorzunehmen und sie zurechtzurücken, ist eine der grausamsten Schranken des menschlichen Daseins. Das Leben wäre leichter zu erdulden, wenn wir eine zweite Gelegenheit bekommen könnten.“ (S. 50)
„Frau in Rot auf grauem Grund“ ist ein Roman voller Bewunderung, Liebe, Sehnsucht, Vermissen und Schmerz, in dem eine Frau zwar zum Ideal stilisiert wird, aber gleichzeitig aufgrund ihrer Schwächen, die der Leser erkennt, der Maler jedoch in ihrer Tragweite verleugnet, immer Mensch bleibt.
Der Maler selbst hat (noch) nicht die nötige Distanz, um sie zu ent-idealisieren, was unumgänglich für sein seelisches Wohlbefinden und sein inneres Gleichgewicht ist.
Miguel Delibes schreibt gleichzeitig poetisch und anschaulich sowie nüchtern, reflektiert und differenziert über hochemotionale Geschehnisse. Er wird niemals auch nur annähernd gefühlsduselig, kitschig, schwülstig oder sentimental. Kein Wort ist zu viel, keines zu wenig.
Durch diese Schreibweise wird der Text eindringlich und löst Miguel Delibes gerade gegen Ende des Buches ein Feuerwerk an Emotionen aus.
In diesem Roman gibt es keine äußere Handlung, aber trotzdem passiert so viel. Es wurde mir keine Minute langweilig.
Wie in einem Puzzle fügt sich Szene um Szene aus der Erinnerung des Malers zu einem Gemälde, das das lebendige und vielschichtige Bild von Nocolás und Ana, ihrer Ehe und ihrer Familie abbildet.
Mit „Frau in Rot auf grauem Grund“ hat Miguel Delibes (1920-2010) eine ganz besondere literarische Perle erschaffen, die schon rein äußerlich mehr als ansprechend daherkommt. Das Buch, das mit einem roten Leineneinband versehen ist und auf dessen Cover sich das Foto einer rittlings auf einem Stuhl sitzenden sinnlichen Frau mit entblößten Schultern befindet, ist eine Augenweide, die man gerne in Händen hält.
Der spanische Schriftsteller, der mit dem Cervantes-Preis 1993 den begehrtesten Literaturpreis der spanischsprachigen Welt erhielt, komponierte dieses Meisterstück 1991 als Hommage an seine eigene Ehefrau Ángeles de Castro, die 1974 verstarb.
5/5 ⭐️
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