Auf diesen wunderbaren Roman wäre ich nie gestoßen, wenn ihn zwei liebe Freunde nicht erwähnt und empfohlen hätten!
„La Oculta“ ist eine Familiengeschichte, die im kolumbianischen Bundesstaat Antioquia spielt und in der man auch vom Schicksal des Landes erfährt, in dem Gewalt und Terror sowie Veränderungen eine große Rolle spielen. Daneben kommen aber auch friedvolle und harmonische Phasen sowie die Schönheit der Natur und die Besonderheit der Landschaft nicht zu kurz.
Gleich zu Beginn eine traurige Nachricht: Der fast 50-jährige Antonio, der mit seinem Partner Jon, einem angesehenen Künstler, schon seit mehr als 30 Jahren in New York lebt, wird frühmorgens im März von seiner Schwester Eva angerufen.
Sie teilt ihm mit, dass ihre 89-jährige Mutter Ana gestern auf dem Familienbesitz La Oculta („Die Verborgene“) bei Jericó im kolumbianischen Bundesstaat Antioquia gestorben ist.
Antonio, Musiklehrer und Violinist in einem New Yorker Orchester, fliegt nach dem Telefonat mit Eva nach Kolumbien, um sich von seiner verstorbenen Mutter zu verabschieden.
Bald ist die Finca voller Menschen. Die Kinder, Neffen, Nichten und andere Angehörige der Verstorbenen kommen zur Beerdigung.
Seit die Verhältnisse in Kolumbien wieder stabiler sind und Paramilitärs und Guerrilla das Land nicht mehr durch Raubüberfälle, Entführungen und Gewalttaten erschüttern, lebt die älteste Schwester Pilar mit ihrem Ehemann auf der Finca, die einsam und verborgen in einem Tal zwischen hohen Bergen liegt. Davor, als Gewalt und Terror die Region unsicher gemacht haben, hat die Familie die Finca aufgrund der gefährlichen Umstände jahrelang nicht besucht.
Jedes Kapitel wird abwechselnd aus der Sicht eines der Geschwister geschrieben und so bekommen wir mit der Zeit ein wunderbares und lebendiges Bild von Pilar, Eva, Antonio sowie deren Beziehungen und Lebensumständen.
Wir lernen die drei dabei sehr gut kennen, weil jeder sowohl über sich selbst als auch über seine Geschwister schreibt.
Interessant und fesselnd sind die Ausführungen Antonios, unterhaltsam und spannend die Geschichten Pilars und packend die Kapitel von Eva.
Der Nachzügler Antonio, der homosexuell ist und keine eigenen Nachkommen hat, weiß, dass deshalb der Nachname Ángel aussterben wird. Es ist ein Wissen, das ihn traurig stimmt. Er hat im Gegensatz zu seinen beiden ungleichen Schwestern großes Interesse an der Geschichte der Finca und an der Familiengeschichte, die eng mit der Geschichte Kolumbiens verwoben ist. Er ist dabei, seine Rechercheergebnisse für seine Geschwister und deren Nachkommen aufzuschreiben.
Pilar, die sich absolut nicht für ihre Familiengeschichte interessiert, aber Halt in der Religion findet, sehr gläubig und konservativ ist und über die Maßen an der Finca hängt, hat sich bis zuletzt um ihre Mutter gekümmert. Sie lebt seit fast 10 Jahren mit ihrem Ehemann Alberto auf La Oculta, wo sie v. a. über Weihnachten wochenlang ihre Mutter und den Rest der Familie beherbergte. Auch nach dem Tod der Mutter will sie diese Tradition fortführen.
Die hübsche, kulturbegeisterte und wissensdurstige Eva, die schon dreimal verheiratet war, wollte früher immer Psychologie studieren oder Tänzerin werden. Auf Wunsch ihrer Eltern studierte sie dann aber BWL. Im Gegensatz zu ihren Geschwistern hängt sie nicht an La Oculta. V. a. seit sie dort als Erwachsene überfallen worden und knapp dem Tod entronnen ist, hat ihre Verbundenheit zur einstigen Heimat deutlich nachgelassen. Sie hätte nichts dagegen, die Finca jetzt, nach dem Tod der Mutter, zu verkaufen.
Zu guter Letzt noch zwei Details, die mir gefielen:
Schmunzeln musste ich über die Wortneuschöpfung „Runzelkrankheit“ und spannend und klug fand ich, dass die Siedler des neu gegründeten Dorfes Jericó beim Zubereiten der Speisen an die Farben der Fahnen von Antioquia und Kolumbien denken sollten.
Wenn die Mahlzeiten diese Farben enthalten, seien sie ausgewogen und gesund, weshalb man erst im hohen Alter („alt und runzlig“ war da meine Assoziation) sterben müsse.
La Oculta ist ein lesenswerter Roman, den ich gerne empfehle.
🇨🇴 4,5/5⭐️