In diesem Mix aus Fantasy-, Familien-, Schauer- und historischem Roman erzählt Susanne Röckel in vier Kapiteln die fesselnden Geschichten eines Vaters und seiner drei erwachsenen Kinder, deren Leben eines Tages vom rätselhaften Mythos und grausamen Kult um den Vogelgott aus dem Tritt gebracht wird. Die vier fühlen sich seiner hypnotisierenden Macht ausgeliefert.
Susanne Röckel hinterfragt mit ihrem Roman die Alleinherrschaft von Wissenschaft und Vernunft und beschäftigt sich mit deren Grenzen und der Angst vor der Macht.
Der Vogelpräparator Konrad Weyde, ein Lehrer mit einer Leidenschaft für Vögel, kommt in ein Schauder erregendes Dorf und entdeckt einen unbekannten, schönen, großen und majestätisch wirkenden Vogel…ein herrliches und imposantes Tier, das die Bewohner des Dorfes als Gott verehren…des Präparators Jagdtrieb, Habgier und Streben nach Ruhm werden geweckt!
Schon nach wenigen Sätzen verspüre ich die düstere, abweisende und misstrauische, nahezu feindselige Atmosphäre. Ich sehe die verwahrloste, wie ausgestorben wirkende Gegend und das verlassen wirkende Dorf regelrecht vor mir und frage mich:„Was ist da passiert?“. Das einzig lebendige scheinen die Vögel zu sein, was die Atmosphäre aber nicht freundlicher, sondern eher noch unheimlicher macht.
Dann lernen wir nacheinander die drei Kinder des Vogelpräparators kennen.
Erst tauchen wir in Leben und Erlebnisse von Thedor Weyde ein, dem jüngsten Sohn und Nesthäkchen des strengen und ehrgeizigen Präparators. Thedor, weder besonders tüchtig noch strebsam und ohne Antrieb, Durchhaltevermögen oder Lebensentwurf, hat sein Medizinstudium abgebrochen und geht eines
Tages als eine Art Entwicklungshelfer für ein Jahr ans anderen Ende der Welt auf eine mysteriöse Krankenstation in das sog. Aza-Land. Bereits zu Beginn sichtet er den fremdartigen und beängstigenden Vogel, dem einst sein verstorbener Vater gegenüber stand. Der Aufenthalt gipfelt in einem unaussprechlich grauenvollen Blutbad – Ereignisse, die ihn so überfordern, dass er letztendlich in der Psychatrie landet.
Wir lernen dann seine Schwester Dora kennen, eine Kunsthistorikerin, die über ein mit einer Madonnenfigur übermaltes Gemälde promoviert. Im Rahmen ihrer Recherche stößt auch sie auf den rätselhaften und schauerlichen Vogel.
Zuletzt lernen wir noch Lorenz, den ältesten der Geschwister, einen Journalisten, kennen. Er kennt den sagenumwobenen Vogel bereits aus einem Märchen und für ihn ist es der Teufel. Außerdem begegnet er dem Vogelmythos im Rahmen einer Unfallrecherche.
Susanne Röckel hat eine eindringliche Sprache, die das durchgängig Unheimliche, Rätselhafte und Geheimnisvolle spürbar sowie das Beschriebene vor dem geistigen Auge sichtbar macht. Mit ihren Worten erweckt sie die Geschichte zum Leben. Ich verspürte eine Sogwirkung und ich hatte das Gefühl, mitten drin zu sein.
Die Mischung aus Rückblicken in Kindheit und Aufwachsen der Geschwister einerseits und spannungsvollem Abenteuer sowie packender Schilderung des gegenwärtigen Alltags im Rahmen einer besonderen Lebensphase andererseits machte für mich den besonderen Reiz des Romans aus.
Jedes Kapitel wird aus Sicht eines der Geschwister erzählt. Das Schöne ist, dass diese Kapitel aber nicht isoliert nebeneinanderstehen, sondern ineinander fließen und dass eines zum anderen führt und dass es erst einmal durch den mysteriösen „Vogel Greif“, aber auch durch gemeinsame Erinnerungen und Ereignisse Berührungspunkte und Überlappungen gibt. Nach und nach entfalten sich das Verhältnis der Geschwister untereinander und die Geschichte dieser Familie.
Mir gefällt es außerdem sehr, wie Susanne Röckel häppchenweise die Entstehung und Verbreitung eines neuen, teuflischen Kults beschreibt und nachvollziehbar macht.
Am Ende war ich gleichermaßen fasziniert, nachdenklich und ein bisschen ratlos. Ich hatte den Impuls, gleich nochmal von vorn zu beginnen, um beim zweiten Lesen all das aufzufangen, was mir bei der ersten Lektüre entgangen war. Beim Zuklappen des Buches war mir ein bisschen so, als wäre ich aus einem Traum, besser gesagt aus einem Alptraum erwacht.
Wer sich auf eine nicht realistische, aber packende Reise mit latent schaurig-gruseliger Grundstimmung einlassen will, dem sei „Der Vogelgott“ wärmstens empfohlen.
Frustrierend mag der Roman vllt. für Leser sein, die sich eine konkrete, schlüssige und rational nachvollziehbare Auflösung wünschen… hier wird alles in der Schwebe gehalten.
4/5⭐️