Blondel, Jean-Philippe: Ein Winter in Paris

Gleich vorneweg: ich bin begeistert von diesem recht schmalen Bändchen. Ein Schwergewicht das leichtfüßig daherkommt.

Wer Lust hat auf einen sehr unterhaltsamen und leicht zu lesenden Entwicklungsroman mit Tiefgang, sollte zugreifen.

Ich hatte das Gefühl, gleich mitten im Geschehen zu sein. Jean-Philippe Blondel erzählt von dem 19 jährigen Außenseiter Victor, der aus einfachen Verhältnissen stammt und sich nach dem Abitur in seiner Heimatstadt in der Provinz in einer Pariser Vorbereitungsklasse eines elitären Élysées mit gnadenlosem Konkurrenzdruck und z. T. sadistischen, selbstverliebten Lehrern befindet.
Erst nach über einem Jahr bahnt sich zaghaft eine Beziehung zu dem Kommilitonen Mathieu an.
Doch noch bevor diese Freundschaft richtig beginnen kann, stürzt sich Mathieu in den Tod – ein Wendepunkt im Leben Victors. Tiefgreifende Veränderungen und weitreichende Entwicklungen folgen diesem einschneidenden Ereignis.

Es werden sehr viele bedeutsame Themen aufgegriffen ohne dass der Roman überladen wirkt. Das ist bei der Kürze der Geschichte eine Kunst.

Es geht um sozialen Aufstieg und die damit verbundenen Mühen und Schwierigkeiten. Es geht um die Einsamkeit, die sich oft einstellt, wenn man noch mit einem Bein in der „alten“, vertrauten Welt steht, während man sich mit dem anderen schon in der „neuen“ befindet.
Entfremdung,
Zugehörigkeit, Zwischenwelt, Niemandsland.

Es geht um Ehrgeiz, Leistungs- und Erwartungsdruck und es geht um
Authentizität, mangelnden emotionalen Austausch, fehlende Empathie und kaum vorhandenes wirkliches Interesse am Anderen.

Es geht aber auch um Freundschaft, um Verlust und Trauer, Tabus und Geheimnisse.

Es geht darum, seinen Weg zu finden.

Hinter all dem verbirgt sich eine Kritik am gnadenlosen elitären (Pariser) Bildungssystem mit seiner „Entmenschlichung“.

Trotz all dieser ernsten Themen erzählt der Autor mit großer Leichtigkeit und das Schöne😉: eine Art Happy End: “Das würde ab jetzt mein Ziel sein“.

Die Sprache ist schlicht und gleichzeitig schön, eindringlich und intensiv. Eine berührende Geschichte, eine Welt voller Emotionen wird mit knappen aber treffenden Worten zum Leben erweckt und vor dem geistigen Auge entstehen Bilder und Filme.

Blondel erzählt lebendig und feinfühlig, aber nie gefühlsduselig. Im Verlauf wird es immer tiefgründiger und bewegender.
Manchmal, v. a. anfangs, wurde ich regelrecht kurzatmig oder flog atemlos durch den Text – zu hastig, so dass ich zu einer früheren Stelle zurückkehren musste bzw. wollte, damit mir auch ja nichts entging😂.

Der Leser wird mit einigen Wirklich schönen Metaphern verwöhnt, z. B. –
über einen treffenden, erschütternden, einen aus der Fassung bringenden Satz –
„…ein tiefer Ast, der einen mitten im Galopp aus dem Sattel wirft. Ein eisiger Windhauch im Winter, am frühen Morgen, der einem ins Gesicht peitscht.“

Fazit: sehr lesenswert!

4/5⭐️

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