Lafon, Marie-Hélène: Die Annonce

Wendephase, Ankunft und Neubeginn im Fokus.

Der Inhalt überzeugt!

Die Sprache ist eine Wucht!

Das schmale Bändchen ist eine Perle!

Wir beginnen zu lesen und sind sofort mittendrin.

Mittendrin in dem abgeschiedenen Ort Fridières in Frankreich mit seinen Naturgewalten.

Die Nacht ist dunkler als irgendwo sonst, das Gewitter ist „ein wildes Schauspiel“ und der Regen ist eine „rasende Flut“.

In diesem, in tausend Metern Höhe gelegenen Weiler in der Auvergne, einem von Wiesen und Wäldern umgebenen „verblüffenden Landstrich“, gleichermaßen rau und schroff, wie atemberaubend und faszinierend, sind die 37-jährige Annette und ihr 11-jähriger Sohn Éric gelandet.

Hier wollen sie Fuß fassen.

Der 46-jährige Paul lebt dort mit seiner Hündin Lola … und mit seinen beiden um die 80-jährigen Onkeln Louis und Pierre … und mit seiner etwas jüngeren Schwester Nicole.

Das Miteinander in dieser Berglandwirtschaft ist nicht unkompliziert und der Ton ist nicht zimperlich. Der Umgang ist bärbeißig und ruppig.

Paul hat, nachdem er auf Tanzfesten und anderweitig über Jahre hinweg nicht erfolgreich war, per Annonce eine Frau gesucht, um nicht wie seine Onkel als rüpelhafter Junggeselle mit mittelalterlichen Vorstellungen und überholten Vorgehensweisen zu altern… und Paul hat Annette gefunden.

Bauer sucht Frau?

Ja!

Aber zu keinem Zeitpunkt klischeehaft, kitschig oder seicht.

Annette lebte am anderen Ende von Frankreich und hatte eine Trennung hinter sich, die der Beziehung mit einem alkoholkranken, gewalttätigen und straffällig gewordenen Mann ein Ende setzte … und Annette, nun alleinerziehend, hat die Annonce entdeckt und ausgeschnitten.

Zweimal haben sich Paul und Annette getroffen. Dann wurden Nägel mit Köpfen gemacht.

Die beiden Neulinge Annette und Éric haben es nicht ganz leicht in der eingeschworenen und in sich geschlossenen Gemeinde und in dem aufeinander eingespielten Haushalt, in dem Pauls Schwester Nicole das Regiment über die drei Männer führt.

Die konservativen und hochmütigen Onkel und die gleichermaßen stolze wie verbitterte und um ihren Stand besorgte Nicole erleichtern den Beiden die Eingewöhnung nicht.

Und einen guten Stand hat Nicole, weil sie sich als zuverlässige Unterstützung und fleißiges Lieschen nicht nur um die beiden Onkel, sondern um alle Alten und Bedürftigen im Weiler kümmert. Trotzdem meint sie, ihr Revier verteidigen zu müssen…

Es ist interessant, in die Lebensgeschichten der Charaktere einzutauchen, etwas über ihre Vergangenheit und Gedankenwelt zu erfahren und sie und ihren Alltag näher kennenzulernen.

Es macht Spaß diesen beachtlichen kleinen Ort zu erkunden, der von Vater Lemmet, einem „ambulanten Bäcker und Krämer“ versorgt wird.

Die 1962 geborene Marie-Hélène Lafon schreibt sprach- und bildgewaltig.

Sie wählt ihre Worte präzise und bringt das, was sie zu Papier bringen möchte temporeich, prägnant und schnörkellos auf den Punkt.

Staccato-artig und in Forte präsentiert sie virtuos ein wuchtiges Werk mit alltäglichem, aber originell umgesetzten Inhalt.

Sie spielt mit Worten, Sätzen und Satzzeichen.

Mit dem zeitweisen Weglassen von Kommata zum Beispiel treibt sie das Geschehen voran.

Kurze Zeit später hat man das Gefühl, auf einem Fluss aus Worten und Sätzen dahinzutreiben.

Das Gelesene reißt einen mit und wirkt wie ein endloser Gedankenstrom, der sich in langen Sätzen und aneinandergereihten Wörtern ohne Satzzeichen oder nur durch Kommata getrennt präsentiert.

Die Autorin ist eine genaue Beobachterin, die das Beobachtete gründlich seziert und detailliert, aber niemals langatmig, beschreibt.

Der Leser wird durch ihre nüchterne Sprache auf Distanz gehalten, worin sich der vorsichtige, misstrauische und verängstigte Charakter Annettes, die Schüchternheit Érics, die noch zaghafte Beziehung der sich annähernden Partner und das kühle Verhältnis der zusammengewürfelten neuen Familie zeigt.

Da ist noch wenig Vertrauen und kaum Nähe. Der Text spiegelt, wovon er erzählt.

Und das wirkt unfassbar glaubwürdig.

Nach Gefühlen sucht man im Text vergeblich. Stattdessen gelingt es der Autorin durch ihre Erzählweise, sie während der Lektüre im Leser selbst entstehen zu lassen.

Das ist große Kunst.

Man sieht die überwältigende Natur regelrecht vor sich, nimmt die Gerüche von Heu und Erde wahr und kann unschwer in die Szenerie eintauchen und die Menschen hautnah beobachten.

Trotz aller Sachlichkeit würzt Marie-Hélène Lafon das schmale Bändchen mit einer wohldosierten Portion Witz.

Man sollte dieses besondere, beeindruckende und bewegende Werk meines Erachtens langsam, aufmerksam und bedächtig lesen, damit man sein Lesevergnügen nicht mindert und nichts verpasst.

Das ist nicht ganz einfach, weil die Sprache einen Sog ausübt und den Leser voranzutreiben scheint.

Ein Lesegenuss!

Ein Highlight!

5/5⭐️

🇫🇷

2 Gedanken zu “Lafon, Marie-Hélène: Die Annonce

    1. Vom Inhalt her würde dir die Geschichte ganz bestimmt gefallen, aber ich glaube nicht, dass dir Sprache und Stil zusagen würden. Ich weiß auch, dass du Romane mit Handlung und Dialogen bevorzugst… Das steht hier auch nicht im Vordergrund.

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