🐾 Der Schatten, den die Herkunft auf das Leben wirft…🐾
Schon nach wenigen Seiten hat mich Elizabeth Strout mit ihrem 205-seitigen Roman völlig in ihren Bann gezogen.
Meine ersten Eindrücke: So lebendig und frisch, so tiefgründig und gehaltvoll.
Aber jetzt erst einmal ein paar Worte zum Inhalt:
Nach einem operativen Routineeingriff Mitte der 1980-er Jahre bekommt die Ich-Erzählerin Lucy, Ehefrau und Mutter zweier kleiner Töchter, aus ungeklärter Ursache Fieber, weshalb sie neun Wochen lang stationär in einem Krankenhaus in New York, mit Blick auf das imposante Chrysler Building (googeln lohnt sich 😉), behandelt werden muss.
Genauso plötzlich wie das Fieber kam, verschwindet es nach dieser Zeit auch wieder, aber während dieser Wochen passiert so Einiges und genau davon erzählt Lucy uns rückblickend.
Eines Tages bekommt Lucy im Krankenhaus Besuch von ihrer Mutter, die nun einige Tage bei ihr bleibt und Geschichten von früher oder von alten Bekannten erzählt.
Lucy verspürt Freude und ein „warmes, flüssiges Gefühl“ (S. 11), weil sie ihre Mutter nach Jahren endlich wiedersieht. Sie ist glücklich, über „diese ganz neue Art, miteinander zu reden“ (S. 43). „Oh, war ich glücklich, wie ich da lag und mit meiner Mutter schwatzte!“ (S. 43)
Die teilweise aufwühlenden, aber auch amüsanten Geschichten ihrer Mutter bringen Lucy auf andere Gedanken und lassen sie abschweifen und assoziieren.
Auf diese Weise erfahren wir, dass Lucy zusammen mit ihren beiden älteren Geschwistern in äußerst ärmlichen und lieblosen Verhältnissen und als Außenseiterin bei ihren Eltern in einem abgelegenen Haus in Illinois aufgewachsen ist.
Wir erfahren auch, wann, wodurch und weshalb die erfolgreiche Schülerin Lucy den Wunsch, Schriftstellerin zu werden, entwickelt hat und dass ihr, der naiven, aber wissbegierigen und sympathischen Unschuld vom Lande, aufgrund ihrer vorbildlichen Noten ein kostenloser Studienplatz in der großen weiten Welt, in Chicago, angeboten wurde.
Und wir erleben mit, wie Lucy im zweiten Studienjahr ihren künftigen Mann William, Laborassistent bei ihrem Biologieprofessor kennenlernte und wodurch es zu dem Kontaktabbruch mit ihrer Ursprungsfamilie kam.
Zu alledem möchte ich natürlich keine Details verraten, weil ich niemandes Lesevergnügen mindern möchte.
Nur so viel: Im Wechsel lauschen wir im Folgenden den Geschichten und Erinnerungen der Mutter, den Unterhaltungen zwischen Mutter und Tochter im Krankenzimmer und Lucys Erinnerungen und Anekdoten aus ihrem bisherigen Leben.
Und dann kippt Lucys Stimmung. Unliebsame Erinnerungen tauchen auf und mit ihnen verdrängte Gefühle … Sie spürt, was ihr gefehlt hat und fehlt.
Ich möchte noch einige tiefgründige, wahre oder amüsante Formulierungen zitieren:
„„Du hast mehr Substanz, aber Irene hat mehr Stil.“ Ich sagte: „Aber Stil IST Substanz.““ (S. 33)
„Ich sagte: „Es gab ziemlich oft Dosenbohnen bei uns.“ Und er sagte: „Und dann habt ihr alle um die Wette gefurzt, oder wie?“ Und da wurde mir klar, dass ich ihn nie heiraten würde. Seltsam, wie ein Satz ausreichen kann, um einem so etwas klarzumachen. Man kann bereit sein, auf die Kinder zu verzichten, die man sich eigentlich wünscht, man kann bereit sein, Kommentare über seine Vergangenheit, seine Kleidung an sich abprallen zu lassen, und dann – eine kleine Bemerkung, und die Seele fällt in sich zusammen und sagt: Oh.“ (S. 34)
„Abgesehen von Ihrer Krankheit sind Sie gesund…“ (S. 146)
„Aber letztlich, so glaube ich, heißt rabiat sein, auf sich selbst zu hören, zu sagen: Hier stehe ich, und ich gehe nicht an einen Ort, gegen den sich alles in mir sperrt…“ (S. 191)
Und last but not least: „Leben, denke ich manchmal, heißt Staunen.“ (S. 205)
Mir wurde keine Sekunde langweilig, in der ich Lucy, eine tiefgründige, ehrliche, beschädigte und starke Frau begleitete. Sie hat so etwas Bescheidenes, Weltfremdes, Kluges, Offenes, Verletzliches und Ursprüngliches an sich, das gleichermaßen fesselt und erstaunt. Sie war mir sympathisch, ich mochte sie.
Und sie ist bewundernswert selbstkritisch, was mir gefällt.
Ein Hauch von Schwermut und Melancholie schwebt über der Geschichte, aber ebenso Zuversicht und Vertrauen ins Leben.
Das war mein erster, aber sicherlich nicht letzter Roman von der 1956 in Maine geborenen Elizabeth Strout. Er wurde 2016 für den Man Booker Prize nominiert.
Ich empfehle den Roman sehr gerne weiter!
4/5⭐️
🇺🇸
In der Hoffnung, dass auch die weiteren Bücher von E. Strout ihre Leser*innen finden, versuche ich hier zusätzlich zur hervorragenden obenstehenden Rezitation eine Einordnung ihres Gesamtwerkes, weil für mich die Trennung von Autor und Werk schon immer künstlich war. Elizabeth Strout steht in der Tradition von Sherwood Andersons Erzählsammlung „Winesburg, Ohio“, einem Klassiker der amerikanischen Literatur. Kaum einer ist glücklich in Winesburg. Fast jeder hat eine belastete Geschichte und zeigt einen Zipfel davon, wenn der richtige Zuhörer sich nähert. Oft aber sprechen die Menschen nur mit sich selbst, weil sie ihre innere Welt mit niemandem teilen können. Mit seinem Erzählreigen um eine amerikanische Kleinstadt kurz nach 1890 gilt Sherwood Anderson (1876 bis 1941) als Vorläufer Faulkners und Hemingways, und auch von Elizabeth Strout. Die zwanzig Erzählungen und zwei Rahmengeschichten, aus denen sich „Winesburg, Ohio“ zusammensetzt, spielen in einem 1800-Seelen-Ort, der nach Clyde in der Nähe des Eriesees gestaltet ist, dem Dorf, in dem Anderson aufwuchs (so wie E. Strout nie wirklich Maine verlassen konnte). Das Leben, das erzählt werden soll, scheint offen dazuliegen, bleibt aber ein Rätsel, weil es gar nichts hilft, alles zu wissen. Oft liegt das Ereignis, das den ganzen weiteren Weg vorzeichnete, weit zurück, unverarbeitete Trauer, Kindheitserlebnisse, ein Betrug, eine Lebensenttäuschung, die alles andere entschied. 2012 sind von „Winesburg, Ohio“ zwei Neuübersetzungen erschienen, in der Ausgabe des Manesse Verlags hat Daniel Kehlmann das Nachwort geschrieben und erklärt: Winesburg Ohio begründete die Gattung der interlinking short stories, der Geschichtenreihe, deren einzelne Episoden in sich abgeschlossen und doch miteinander verbunden sind. Ist es ein Zufall dass diese Form des „Romans“ in den Vereinigten Staaten entwickelt wurde, oder haben die Schriftsteller damit die geeignete Form gefunden, um etwas Existenzielles über ein Land zu erzählen, das ständig die Gemeinschaft beschwört und doch so viel mehr als das alte Europa ein Land der Einsamkeit und der Melancholie ist? Amerika, schrieb George Steiner Jahrzehnte später, sei nahe seiner Mitte das traurigste Land der Erde. Es ist diese Traurigkeit einer gottgläubigen und zugleich gottverlassenen Provinz (nicht nur in der Mitte des Landes, auch in den Provinzstädtchen an der Küste) im Gegensatz zur Stadt. In ihrem Roman „Die Unvollkommenheit der Liebe“ beschreibt Elizabeth Strout diesen Gegensatz am Beispiel einer Schriftstellerin („My name is Lucy Barton“) aus dem winzigen Kaff Amgash im ländlichen Illinois, die es nach New York geschafft hat, allerdings mit dem Gepäck ihrer unverarbeiteten Kindheit und Jugend, das es ihr auch in dem neuen Leben sehr schwer macht. „Ich hab dich lieb“ wäre ihrer Mutter nie über die Lippen gekommen, aber sie wusste, dass es so war.
„Anything is Possible“ („Alles ist möglich“) spielt als Episodenroman ebenfalls dort mitten in den USA und wir lernen so wieder allmählich die Einwohner dieser kleinen Gemeinde, die schon im Zusammenhang mit der Geschichte von Lucy Barton erwähnt wurden, in ihren wechselseitigen Bezügen, Verletzungen, unverarbeiteten Erlebnissen aus der Kindheit und der zum Teil unvorstellbaren Armut noch in den 70 er Jahren des letzten Jahrhunderts kennen. Und hier heißt es am Schluss: … und ja, da war es, das untrügliche Wissen: Alles war möglich, für jeden.
Nach der Lektüre war es für mich fast so, als ob ich in Crosby oder Amgash gelebt hätte, als ob es alles Bekannte wären, so plausibel, unverwechselbar und lebendig charakterisiert sind die Bewohner durch die Schreibweise von Elizabeth Strout für mich geworden. Wer kann, sollte vielleicht die englische Fassung jeweils lesen, im Vergleich sind mir einige Holperstellen aufgefallen, obwohl die Übersetzung durchaus gelungen ist. Zwei Beispiele aus Olive Kitteridge: auf S. 123 heißt es „Tun Sie uns die Liebe an und trinken die Milch“ – im Original auf S. 113:„But for the love of God, drink that milk“ , auf S. 127 „Ich mach das nicht mit Fleiß“ – „I’m not trying to Nina said“ (S. 117 meiner englischen Ausgabe). Ich möchte durch diese Anmerkungen keinesfalls besserwisserisch rüberkommen, diese Überlegungen habe ich für meinen Literaturkreis zusammengestellt, als wir ein Buch von E. Strout gemeinsam besprochen haben und ich dachte, es könnte vielleicht auch andere interessieren und auf die Autorin neugierig machen.
Fluch der Fremdworte. Ich meinte natürlich Rezension, nicht Rezitation.