Dicker, Joël: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

New York, Anfang 2008.

Der knapp 30-jährige Schriftsteller Marcus Golmann wendet sich in einer schweren Schaffenskrise hilfesuchend und händeringend an den 67-jährigen Harry Quebert, seinen ehemaligen Literaturprofessor, zu dem sich über die Jahre hinweg eine tiefe Verbundenheit und Freundschaft aufgebaut hat. Der erfolgreiche und berühmte Autor aus Aurora, New Hampshire, soll ihm aus seiner Notlage heraushelfen.

Harry lädt Marcus zu sich in seine idyllisch gelegene Villa ein. Er bietet ihm an, ihn in der amerikanischen Provinz zu besuchen, um hier die nötige Ruhe und Inspiration für einen neuen Roman zu finden.

Marcus findet dort aber bereits nach kurzer Zeit etwas anderes: ein Geheimnis!

Da Joël Dicker aus dem Geheimnis kein Geheimnis macht und es schon auf Seite 36 lüftet, verrate ich es hier auch: Harry hatte 1975 mit 34 Jahren eine Affäre mit der 15- jährigen Nola, die kurz darauf spurlos verschwand.

Dieser Fund ist aber nicht alles.

Die Arbeiter einer Gartenbaufirma finden einige Monate später auf dem Grundstück von Harry Menschenknochen, die zusammengesetzt das vollständige Skelett von Nola ergeben.

Hat Harry das Mädchen umgebracht? Wenn ja, dann blüht ihm die Todesstrafe.

Marcus hält seinem väterlichen Freund die Treue. Er steht zu ihm, glaubt keine Minute daran, dass Harry diese Schuld auf sich geladen haben könnte und versucht, zusammen mit dem Anwalt Roth und später v. a. mit dem Polizisten Gahalawood, die Wahrheit herauszufinden.

Dass Marcus hartnäckig ist, detaillierte Fragen stellt und sich wie ein Detektiv akribisch mit den Ereignissen um Nolas Verschwinden beschäftigt, gefällt jemandem so ganz und gar nicht…

Der Roman spielt auf mehreren Zeitebenen, was zu einem extrem kurzweiligen und spannenden Leseerlebnis beiträgt. Zum einen lesen wir von den aktuellen Geschehnissen 2008, also denen seit der Verhaftung von Harry, zum anderen tauchen wir in die Vergangenheit ein. Genauer gesagt ins Jahr 1975, als Harry und Nola sich begegnet sind.

Außerdem erfahren wir die Biographien von Harry und Marcus und wie deren Freundschaft begann.

„Das Leben hat in der Regel keinen Sinn, es sei denn, sie bemühen sich, ihm einen zu verleihen, und kämpfen jeden von Gott geschenkten Tag darum.“ (S. 108) – Das ist ein Satz, den ich mir unbedingt markieren musste, weil ich ihn so treffend finde!

„Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ ist trotz seiner über 700 Seiten ein durchgehend kurzweiliger und unterhaltsamer, überdies raffiniert komponierter Roman, der etliche Überraschungen und Wendungen bereithält und bis zum Schluss spannend bleibt.

Was mir auffiel und so manchen Leser stören könnte, ist der Hang zur Übertreibung in zwei Bereichen.

Einerseits betrifft es die Mutter-Sohn-Beziehung zwischen Marcus und seiner Mutter und andererseits die Liebesbeziehung zwischen Nola und Harry.

Mich störte diese zugespitzte Darstellung nicht besonders, weil Joël Dicker dadurch m. E. nur hervorhob und deutlich machte, was diese Beziehungen kennzeichnete: eine übergriffige Mutter, die Schwierigkeiten hat, ihren Sohn loszulassen und eine Pubertierende, die von ihren Gefühlen übermannt wird, die die Liebe äußerst verklärt und romantisch sieht und alles drumherum vergisst. Wobei im Fall Nolas noch ein bedeutsames Detail hinzu kommt, das ich hier nicht erwähnen möchte, um die Spannung keinesfalls zu mindern.

4/5 ⭐️

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