Flašar, Milena Michiko: Oben Erde, unten Himmel

Die 25-jährige Ich-Erzählerin Suzu Takada, die als Kellnerin arbeitet, aber nicht besonders am Kontakt zu anderen Menschen interessiert ist, lebt mit ihrem Hamster Punsuke in ihrer Wohnung in einer ruhigen und eher faden, aber billigen Gegend in der Stadt.

Durch Kōtarōo67, den sie über eine Dating-Site kennenlernt, verändert sich das Leben der Ich-Erzählerin, die bisher einsam, sehr wortkarg und verschlossen war, zum Positiven.

Aber die Veränderung hält nur wenige Monate an, weil Kōtarōo67 dann plötzlich, d. h. ohne jegliche Vorwarnung, von heute auf morgen spurlos verschwindet. Was für eine riesige Enttäuschung!

Als ihr Chef sie dann ebenso unerwartet kündigt, weil ihr angeblich das gewisse Maß an Anmut, Charme und Empathie fehlt, ist der Scherbenhaufen perfekt.

Schließlich rappelt Suzu sich auf und bewirbt sich auf Stellen, bei denen sie möglichst wenig mit Menschen zu tun hat. Reinigungskraft, Küchengehilfin oder Fließbandarbeiterin… all das kann sie sich vorstellen.

Bei der Reinigungsfirma hat sie schließlich ein Vorstellungsgespräch. Aber es ist keine gewöhnliche Reinigungsfirma. Es ist eine, bei der man Takt und Fingerspitzengefühl braucht.

Es ist eine „Leichenfundortreiniger“-Firma.

Schon einen Tag nach dem Vorstellungsgespräch beginnt Suzu mit ihrer neuen Arbeit: Kistenschleppen, Wischen und Schrubben, ausräumen und desinfizieren.

Als Leichenfundortreinigerin erlebt Suzu so manches. Es ist äußerst interessant, oft amüsant und auch zum Nachdenken anregend, was die Autorin uns aus Suzus Alltag erzählt.

Und das Beeindruckendste: mit Beginn dieser neuen Tätigkeit beginnt Suzu sich zu verändern und zu entwickeln.

Suzu wird empathischer, interessierter an ihren Mitmenschen und offener. In dem Maß, wie die Mittzwanzigerin weicher wird, wird die Geschichte berührender… es ist faszinierend, wie sich beide, Suzu und die Geschichte, verändern. Nicht laut und plötzlich, sondern ganz leise und unmerklich. Es ist ein Prozess.

Herr Sakai, ihr 75-jähriger Chef spielt bei dieser Entwicklung eine ganz bedeutende Rolle…

Nicht nur, dass mir nicht klar war, dass es den Beruf des Leichenfundortreinigers gibt (diesen Beruf gibt es in dieser Form wohl nur in Japan), ich habe mich auch noch nie mit dem Problem des Kodokushi beschäftigt. In unseren Gefilden gibt es keinen extra Begriff für verstorbene vereinsamten Personen, deren Ableben monate- oder jahrelang unbemerkt bleibt, weil niemand sie vermisst. Aber die Japaner haben, wie so oft, hier einen speziellen Begriffe kreiert und etabliert.

Auch der Begriff des „Ghostings“ begegnete mir in diesem Roman zum ersten Mal. Es verbirgt sich dahinter der vollständige Kontakt- und Kommunikationsabbruch in einer zwischenmenschlichen Beziehung ohne Ankündigung. Obwohl vorher Treffen stattgefunden haben oder sogar eine Beziehung bestand, laufen plötzlich jegliche Kontaktversuche ins Leere.

Es gefällt mir, durch Lesen Neues zu entdecken oder mein Vokabular zu erweitern. Dieser Roman bietet diesbezüglich einiges.

Suzus Gedanken zu lauschen, ihren Beobachtungen zu folgen, sie in ihrem Alltag zu beobachten und sich auf eine ganz andersartige Thematik einzulassen verschafft mir von der ersten Seite an großes Lesevergnügen. Es ist eine interessante, z. T. humorvolle und zum Nachdenken anregende Lektüre. Trotz der eher schweren Thematik – das Gefühl, anders zu sein und nicht dazu zu gehören, Außenseitertum, Einsamkeit, Sterben, Tod – liest sich die Geschichte leicht und flüssig.

Wunderschöne Bilder tun ihr Übriges:

Das Leben der Protagonistin glich z. B. „einer Einbahnstraße, auf der nur ich allein unterwegs war. Kein Gegenverkehr. Kein Stau…“ (S. 11)

Ein kritisches Thema ploppt z. B. „wie das Fettauge in einer Suppe an anderer Stelle wieder auf“ (S. 17)

„Angst ist der denkbar schlechteste Beifahrer, den Sie sich aussuchen können. Lassen Sie ihn gar nicht erst einsteigen.“ (S. 115)

Mit einer wunderbaren Formulierung beschreibt die Autorin, dass auf eine ungute Situation überreagiert wurde, weil ihre Komplexität außer acht gelassen wurde.

„Zu tragisch! Andernorts schaut man weg. Hier hat man hin, aber nicht dahinter geschaut.“ (S. 145)

Die Sprache ist schön, frisch und lebendig. Sie erleichtert die Auseinandersetzung mit den ernsten Themen des Buches.

Ich empfehle den Roman „Oben Erde, unten Himmel“ von Milena Michiko Flašar sehr gerne weiter.

4,5/5⭐️

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