Vom Minirock zum Hidschab…
London im Herbst 2003.
Die Ich-Erzählerin Nadschwa betritt gerade ein Haus in einer piekfeinen Gegend. Sie will sich dort bei einer wohlhabenden arabischen jungen Frau vorstellen, um für sie und ihre Familie als Hausangestellte und Kindermädchen zu arbeiten.
Dann entführt uns Leila Aboulela in die 1980-er Jahre nach Khartum, der Hauptstadt des Sudan, der vor seiner Unabhängigkeit de facto eine britische Kolonie war.
Wir erleben dort den Alltag in einer privilegierten und westlich orientierten Oberschichtfamilie.
Die 19-jährigen Zwillinge Nadschwa und Omar, Erstsemesterstudenten der Wirtschaftswissenschaften an der örtlichen Universität, sind die verwöhnten Kinder liebevoller und großzügiger Eltern, die sich jeglichen Luxus wie Reisen, Marmor und Silberbesteck sowie Angestellte in Haus und Garten leisten können.
Bevor die Zwillinge zusammen das Wirtschaftsstudium begannen, genossen sie Privatunterricht und waren auf Privatschulen.
Der Vater, der von einem Privatjet träumt, ist Stabschef des Präsidenten und die bezaubernde Mutter, selbst Tochter einer vermögenden Familie, hält sich im Fitnessstudio fit, nimmt regelmäßig Friseurtermine wahr, um sich in der gehobenen Gesellschaft angemessen präsentieren zu können und engagiert sich für wohltätige Zwecke in Waisenhäusern und Gehörlosenschulen.
Omar lässt sich ziemlich gehen und hat Fernweh. Er verschläft ständig, raucht Haschisch und würde am liebsten in London studieren.
Nadschwa sorgt sich um ihn und nimmt ihn vor ihren Eltern, die seinen Lebenswandel und seine Einstellungen nicht gutheißen, in Schutz.
Nadschwa ist eine moderne, emanzipierte und selbstbewusste junge Frau und eine der wenigen weiblichen Studenten und Autofahrer in Khartum.
Auf der Uni verliebt sie sich in den Kommilitonen Anwar. Eine zarte Beziehung bahnt sich an, zerbricht aber bald, weil der politisch aktive Anwar ihren Vater in einer öffentlichen Rede, die er für die revolutionäre Demokratische Front, den studentischen Zweig der Kommunistischen Partei, hält, schwer beleidigt. Nadschwas Vater missbrauche laut Anwar seine Stellung in der Regierung und veruntreue Geld.
Ein Telefonanruf spätnachts im Jahr 1985, in dem der Anrufer der Familie die Nachricht überbringt, dass es einen Militärputsch gegeben hat, markiert den Wendepunkt.
Von da an geht es, beginnend mit Babas Verhaftung wegen Korruption und der Flucht der Mutter mit ihren Kindern nach London, steil bergab. Veränderung über Veränderung vollzieht sich…
Leila Aboulela schreibt mitreißend, bildgewaltig und lebendig. Ich spürte die Hitze, hörte das Vogelgezwitscher und sah die Mangobäume vor mir. Ich roch den Duft des Jasmins und der Guaven genauso wie den Geruch nach Staub und Kloaken und hatte das Gefühl, gemeinsam mit der Protagonistin in der Moschee oder im unbequemen Bus zu sitzen.
Ihr Roman ist ergreifend, bewegend und berührend.
Die Szene in einem Waisenhaus für behinderte Kinder erwacht vor dem geistigen Auge und löst unweigerlich Mitgefühl aus.
Eine weitere Szene in einem Bus, in der Nadschwa gedemütigt wird, erschreckte und empörte mich.
„Minarett“ ist äußerst unterhaltsam und ich flog in kürzester Zeit durch die Seiten. Darüber hinaus ist die Lektüre sehr interessant und informativ, weil die Autorin eine den meisten westlichen Lesern ziemlich fremde Welt beschreibt. Sie ermöglicht Einblicke in Kultur, Tradition, Gesellschaft, Politik und Religion und schreibt über das Erleben von Entwurzelung in einer westlichen Welt.
Unbedingt erwähnen möchte ich noch, dass ich Nadschwas Entwicklung zwar durchgehend interessiert, neugierig und offen, aber zunehmend kritisch betrachtet habe.
Sie wuchs in einer betuchten Oberschichtfamilie im Sudan auf, lebte den glamourösen Alltag einer Elite und landete in den ärmlichen Verhältnissen ihres Londoner Exils. Sie wurde der Großfamilie und dem pulsierenden Leben entrissen und wurde zu einer einsamen Einzelgängerin. In kürzester Zeit verlor sie sämtliche wichtigen Bezugspersonen.
Diese tiefgreifenden und einschneidenden Veränderungen verwirrten und erschütterten sie natürlich. Dass sie den Boden unter den Füßen verlor, weil die derart viele Schicksalsschläge zu verkraften hatte ist absolut nachvollziehbar. Dass die Zuflucht in eine religiöse Gemeinschaft Halt und Orientierung geben kann, ist ebenfalls gut nachvollziehbar.
Allerdings wird mir die Religiosität als Möglichkeit eines Ausweges aus Einsamkeit, Verwirrung und Desorientiertheit etwas zu idealisiert und perfekt dargestellt.
Ich bin westlich sozialisiert und nicht religiös. Dass Nadschwas fromme Selbstaufgabe auf mich befremdlich wirkt, ist nicht verwunderlich.
Wie kritiklos und vertrauensselig sie das Heilsversprechen des Islam und ein extrem konservatives Frauenbild annimmt, wirkt auf mich persönlich etwas blauäugig.
Ich halte es aber für wichtig, Nadschwas Entscheidungen nicht zu belächeln oder zu verurteilen. Es wäre herablassend, überheblich und selbstgefällig. Leben und leben lassen!
Ich empfehle den Roman „Minarett“ sehr gerne weiter. Er ist der zweite von bisher fünf Romanen der sudanesischen Autorin Leila Aboulela, die in Schottland lebt und auf Englisch schreibt. Das Buch erschien bereits 2003 und wurde nun erstmals ins Deutsche übersetzt.
Es ist ein Roman, der zum Hinterfragen und Nachdenken anregt und der schon insofern etwas Besonderes ist, als dass er weniger von einer gelungenen oder misslungenen Integration oder Assimilation erzählt, wovon viele solcher Geschichten handeln, sondern sehr bewusst und mit Nachdruck von der erlösenden Hinwendung der Muslime zum öffentlich praktizierten Glauben erzählt.
4/5⭐️
🇸🇩 🇬🇧