Clement, Jennifer; Gebete für die Vermissten

Gleich zu Beginn muss ich eines loswerden: der 228 Seiten lange Roman ist eine Wucht.

Ich möchte einen Abschnitt zitieren, der die Eindringlichkeit und Bildhaftigkeit der Sprache Jennifer Clements veranschaulicht und der gleichzeitig in Worte fasst, wie es mir mit der Lektüre ging:
„Ihre Worte drangen in mich wie von einer Sprungfeder losgeschleudert. Mein Körper war ein Flipper, und die Worte flogen wie Metallkugeln in mir hin und her, sprangen mir durch Arme und Beine und schlugen mir gegen den Hals, bis sie mitten in meinem Herzen landeten.“ (Seite 49).

Mexiko.
Bundesstaat Guerrero.
Hohe Kriminalitätsrate.
Große Armut, v. a. in ländlichen Gebieten.
Ein Dorf in den Bergen, zwei Autostunden von der Hafenstadt Acapulco entfernt.
Eine Gemeinschaft aus Frauen und Mädchen – die Männer sind auf der Suche nach Arbeit in die USA geflüchtet oder tot.
Mütter, die ihre Töchter hässlich machen, als Jungen verkleiden oder verstecken, damit sie von Drogen- und Menschenhändlern nicht entführt werden.

Ladydi, die unter schwierigsten Bedingungen heranwachsende Protagonistin, erzählt vom Dorfleben in brütender Hitze und mit gefährlichen Tieren. Sie erzählt von alltäglichen Szenen mit ihrer Mutter, einer stehlenden Putzfrau, die Wut und Verbitterung in Alkohol ertränkt und sie erzählt von ihren Freundinnen: Estefani, das tiefschwarze Mädchen aus reichem Hause, Maria, das Mädchen mit der Hasenscharte und Paula, die Schönheit, die schließlich entführt wurde.
„Eine vermisste Frau ist nur ein Blatt, das der Regen in die Gosse treibt“ (S. 68).

Die Umgebung mit ihren Pflanzen und Tieren und die Menschen werden so anschaulich geschildert, dass man meint, mittendrin zu sein.

Der Leser wird regelrecht hineingezogen in die beeindruckende und nahezu unfassbare Szenerie.

Wir lesen von Missbildungen, die durch verspritzte hochgiftige Pestizide (Paraquat) verursacht werden.
Wir lesen von Soldaten und
Maschinengewehren zum Schutz der ehrenamtlich und zeitweise für die Bevölkerung tätigen Ärzte.
Wir lesen von Babys, die in den Müll geworfen, von Müllmännern eingesammelt und von einer Wohltäterin großgezogen werden.
Wir lesen von Müll-Waisen, Bierflaschenfriedhöfen und Männern, die ihren Frauen das Aidsvirus schenken.
Und wir lesen vom Schönheitssalon „the illusion“ mitten in dieser, der unseren so völlig fremd- und andersartigen Welt.

Dass Ladydi, nachdem sie die Schule beendet hat, Arbeit als Kindermädchen bei einer steinreichen Familie in Acapulco findet, scheint eine Wendung ins Positive zu sein. Es scheint so…

Durch die eindringliche, wuchtige, schnörkellose, klare Sprache wird der Leser von der ersten Seite an in die gefährliche, beklemmende, wachsame und brutale Welt Ladydi‘s hineinkatapultiert. Atemlos und gebannt flog ich durch die Seiten.

Ein must read!!!

5/5⭐️

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