Crane, Stephen: Die rote Tapferkeitsmedaille

Ausnahmsweise mein Fazit vorneweg: Der Roman ist ein bravouröses Portrait der Innenwelt eines einfachen Soldaten im amerikanischen Bürgerkrieg!

„Die rote Tapferkeitsmedaille“ von Stephen Crane erzählt von den Erlebnissen des Rekruten bzw. jungen, unerfahrenen und einfachen Soldaten Henry im amerikanischen Bürgerkrieg und erschien erstmals 1894 in der Philadelphia Press als Fortsetzungsroman.

Das Besondere an dieser Veröffentlichung war, dass der 1871 geborene Schriftsteller Crane hier erstmals einen ganz gewöhnlichen Soldaten zu Wort kommen ließ, während bis dato nur die Befehlshabenden, der Adel, das Bürgertum oder der Klerus über den Krieg schrieben.

Aber nun zum Inhalt:

Eine Armee von Soldaten der Union campiert seit Monaten in bescheidenen Hütten in den Hügeln des US-Bundesstaats Virginia. Gegenüber, am anderen Ufer des Flusses Rappahannock, befindet sich das feindliche Lager der Südstaatler, das sie einem Gerücht zufolge am nächsten Tag angreifen sollen. Die Männer reagieren unterschiedlich auf diese Nachricht des Buschfunks:

Wut über die nun vergebliche Verschönerung der ein oder anderen Behausung, Zweifel am Marschbefehl, der sich wie so viele zuvor, wieder nur als Irreführung oder Täuschung entpuppen könnte, Aufregung und Nervosität, weil die „blauen Streitkräfte“, sollte sich das Gerücht bewahrheiten, morgen in den Krieg ziehen würden.

Wir lernen den jungen Rekruten Henry Fleming kennen, der in Friedenszeiten noch auf der elterlichen Farm lebt. Er hat sich voller Überzeugung und Enthusiasmus freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet und liegt nun hier auf seiner Pritsche in der dürftigen Behausung inmitten seiner Kameraden. Henry ist hin- und hergerissen zwischen Ungläubigkeit, Ungeduld, Aufregung, Hoffnung, Faszination, Patriotismus, jugendlichem Eifer, romantischer Verklärung des Kriegs, Unsicherheit sowie Ängsten und Zweifel an seinem Stand- und Durchhaltevermögen.

Plötzlich sieht Henry sich mit der Diskrepanz zwischen der Phantasie vom Heldentum und der Realität des Ernstfalles konfrontiert. Er wird nachdenklich und tiefsinnig. Er bemerkt, dass er sein Gefühl für sich selbst und seine Fähigkeit zur Selbsteinschätzung teilweise verloren hat und nicht in der Lage ist, im Voraus sein Verhalten in der Ausnahmesituation einer Schlacht einzuschätzen.

Eine Frage treibt ihn ganz besonders um: „Woher weißt du denn, dass du nicht die Beine in die Hand nimmst und türmst, wenn’s erst einmal ernst wird? Es gab schon viele propere Mannsbilder, die vor dem Kampf die großen Helden waren, sich dann aber ruckzuck verkrümelten.“ (S. 37)

Im Versuch, sich selbst auf die Schliche zu kommen und seine Selbstzweifel auszuräumen, beobachtet er seine Kameraden und vergleicht sich mit ihnen.

Er versucht vorsichtig und letztlich vergeblich, mit ihnen in einen freundschaftlichen Erfahrungs- und Gedankenaustausch zu kommen, um herauszufinden, ob sie innerlich ebenso zerrissen sind wie er oder eben einfach nur tapfer und entschlossen.

Henry verliert seinen Kampfgeist noch vor der ersten Schlacht, wird grüblerisch, wehmütig und melancholisch. Er fühlt sich einsam unter seiner Kameraden, vermisst die heimische Farm und meint, für‘s Soldatenleben nicht geschaffen zu sein. Aber sein Kampfgeist kehrt wieder zurück. Es ist ein Auf und Ab, ein Hin und Her.

Wir begleiten Henry und sein Regiment der blauen Armee auf ihren Fußmärschen durch die Landschaft, über Felder, Wiesen und Flüsse und vorbei an Wäldern und erleben ihren Unmut darüber, dass sie noch nicht kämpfen dürfen. „Ich will aber nicht mehr sinnlos durch die Gegend laufen. Niemand hat einen Vorteil davon, wenn wir mit jedem Tag müder und schwächer werden.“ (S. 50). „Ich bin nur hier, weil ich kämpfen will. Durch die Gegend latschen kann ich zuhause auch.“ (S. 51)

Es dauert nicht allzu lange, bis die blaue Kompanie von den Rebellen beschossen wird. „Immer häufiger pfiffen die Kugeln nun durch die Äste und bohrten sich in die Bäume. Äste und Blätter fielen so zahlreich zu Boden, als würden tausend unsichtbare Äxte geschwungen. Einige der Männer waren mehrfach gezwungen, sich zu ducken oder in Deckung zu gehen.“ (S. 56). „Der nackte Horror saß allen in den Knochen.“ (S. 57)

… und dann trifft Henry eine Entscheidung: „Nichts in der Welt, nicht einmal die göttlichen Kräfte da oben im Himmel, würden ihn davon abhalten, seine Beine dafür einzusetzen, wofür sie geschaffen waren. Die Gesichter dieser Männer sprachen eine Sprache, die ihm gar keine andere Wahl ließ. In diesen kalkweißen Gesichtern, in diesen wilden Augen hatte die Panik im Pulverdampf Spuren hinterlassen, die sogar noch entsetzlicher waren als der Kampf selbst.“ (S. 59)

Aber schon kurze Zeit später verwirft er diese Entscheidung wieder. „Er war Teil eines Wesens, das bedroht wurde und seine Hilfe brauchte. Sein individuelles Schicksal verschmolz mit einem kollektiven Ziel. In dieser Situation zu fliehen war undenkbar.“ (S. 62)

Wie es mit Henry und seiner Truppe weitergeht, verrate ich natürlich nicht.

Nur so viel:

Wir schlüpfen in Henrys Innenwelt und erfahren von seinen Gedanken, Gefühlen, Phantasien, Visionen und inneren Konflikten. Dabei lernen wir ihn in all seiner Zerrissenheit, Vielschichtigkeit und Komplexität immer besser kennen und werden Zeugen von Pendelbewegungen zwischen Pessimismus und Optimismus sowie zwischen Kleinheitsgefühlen und Größenphantasien.

Die rote Tapferkeitsmedaille hat Henry schließlich erhalten, aber nicht ganz so, wie man sich das vorstellt.

Der Roman ist etwas Besonderes! Stephen Crane fesselt seine Leserschaft mit den nachvollziehbaren und glaubhaften Veränderungen und Ambivalenzen in Henrys Innerem, er besticht mit seinen bildhaften Beschreibungen und er vermittelt Atmosphäre und Stimmungen unter den Soldaten und auf dem Feld bravourös. Man meint, den Lärm der Kanonen und Musketen zu hören, die Gefallenen herumliegen zu sehen und den beißenden Gestank der abgefeuerten Waffen zu riechen.

Hut ab vor der wortgewaltigen, bildreichen und eindringlichen Sprache, den anschaulichen Metaphern, großartigen Beschreibungen, beeindruckenden Formulierungen und psychologisch feinfühligen und stimmigen Betrachtungen Stephen Cranes.

Einige Beispiele möchte ich anführen:„Er fühlte sich wie ein erschöpftes Tier, das von allen Seiten gejagt wird, wie eine gutmütige Kuh, die sich gegen kläffende Hunde wehren muss.“ (S. 64)

„Er kämpfte verzweifelt um Luft, wie ein Baby, das unter seinen Decken zu ersticken droht.“ (S. 64)

„Und die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass die beschwingten Flügel der Hoffnung an den ehernen Pforten der Realität zerschmettern würden.“ (S. 215)

„Die rote Tapferkeitsmedaille“ ist ein fiktiver historischer Roman und ein Klassiker, der sich unbedingt zu lesen lohnt.

Ich finde es unglaublich beeindruckend, dass ein 22-jähriger junger Mann, der erst einige Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs geboren wurde, keine Ahnung vom Soldatenleben und auch noch keine großartige Lebenserfahrung hatte, so ein grandioses Werk erschaffen konnte, in dem er die Diskrepanz zwischen dem Erleben der einfachen Soldaten an der Front, dem sogenannten Kanonenfutter, und der bis dato üblichen offiziellen Kriegsberichterstattung aus Sicht „der Oberen“ aufzeigt.

In der von mir gelesenen Ausgabe des Pendragon Verlages endet das Buch nicht mit dem Ende des neu übersetzten Romans. Es folgen noch die Erzählung „der Veteran“, in der Henry ein älterer verheirateter Mann mit Kindern und Enkeln ist, sowie ein wunderbares Nachwort von Thomas F. Schneider und ein aufschlussreiches Crane-Portrait von Rüdiger Barth. Diese Ergänzungen waren sehr interessant zu lesen und eine wunderbare und lesenswerte Ergänzung.

Noch etwas möchte ich loswerden: Bevor ich „Die rote Tapferkeitsmedaille“ gelesen habe, las ich „Mr. Crane“ von Andreas Kollender, ein Roman, der mich neugierig gemacht und wunderbar auf dieses bedeutungsvolle Werk eingestimmt hat.

… und jetzt bin ich gespannt auf „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque, der die Erzählperpektive von Stephen Crane aufgegriffen hat.

5/5

🇺🇸

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.