Levy, Deborah: Der Mann, der alles sah

Brillant und verstörend.

Der Roman ist in zwei Teile gegliedert, die auf zwei Zeitebenen spielen. Beide sind in der Nähe von bedeutenden politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen angesiedelt. Der erste Teil spielt im Jahr 1988, kurz vor dem Fall der Berliner Mauer und der zweite Teil ist 2016, im Jahr des Brexitvotums, angesiedelt.

Mit Aufklappen des Buches begeben wir uns in den Herbst 1988 nach London. Gleich zu Beginn werden wir Zeugen eines Unfalls auf der Abbey Road, also dort, wo die Beatles ihr berühmtes Albumcover aufgenommen haben.

Der 28-jährige Ich-Erzähler Saul Adler, ein Historiker, der das kommunistische Osteuropa beforscht, betritt einen Zebrastreifen und muss auf den Gehweg zurückspringen, als ein Jaguar ungebremst auf ihn zufährt. Saul stürzt, der Fahrer, ein Mittsechziger mit silbernen Haaren, bremst und steigt aus. Er ist besorgt, aber Saul scheint nicht allzu sehr verletzt zu sein. Der größte Schaden ist wohl der zersplitterte Außenspiegel des Fahrzeugs.

Warum sich Saul hier in der Abbey Road am Zebrastreifen aufhält? …um von seiner 23-jährigen Freundin Jennifer Moreau, einer Kunststudentin, ein Foto von sich machen zu lassen, auf dem er in dieser legendären Straße den berühmten Zebrastreifen nach dem Vorbild der Beatles auf dem Cover ihres Albums „Abbey Road“ überquert. …um dieses Foto der beatlesbegeisterten Luna Müller zu schenken, bei der er übergangsweise wohnen wird, wenn er in drei Tagen zu Forschungszwecken nach Ostdeutschland fahren wird.

Als wäre der Schock des Unfalls nicht schon genug, lässt der zweite Schlag nicht auf sich warten: Trotz ihrer Leidenschaft für den hochattraktiven Saul lehnt Jennifer unberührt und kaltherzig seinen Heiratsantrag ab, weil dieser sich nicht ehrlich und ausreichend für sie und ihre Kunst interessieren würde… und weil sie ohnehin vorhabe, nach ihrem Examen in eine Künstlerresidenz nach Massachusetts zu ziehen.

Vor dem Hintergrund des Todes seines kommunistischen Vaters vor drei Wochen, hat Saul, der mit 12 Jahren schon den Verlust seiner Mutter verkraften musste, fürs Erste wirklich genug Erschütterungen zu verdauen. „Ehrlich gesagt fühlte ich mich angesichts des Autounfalls und der Ablehnung meines allerersten Heiratsantrags, als hätte man mich verprügelt.“ (S. 40)

Als Saul in Ostberlin ankommt, wird er von dem ca. 30-jährigen zuvorkommenden Walter Müller empfangen, der ihm als Dolmetscher zugeteilt worden ist und bei dessen Mutter Ursula und Schwester Luna er übernachten soll. Das Foto, auf dem er genauso wie Jahre zuvor John, Paul, Ringo und George die Abbey-Road überquert, hat Saul dabei. Die Dose Ananas, um die ihn Walter gebeten hat, hat er allerdings vergessen.

Im Verlauf der Lektüre lernen wir Saul aufgrund von eingestreuten Erinnerungen und Rückblicken immer besser kennen.

Er vermisst seine verstorbene Mutter, deren Perlenkette er trägt und er hat(te) ambivalente und konfliktreiche Beziehungen zu seinem autoritären, abwertenden und strafenden Vater und zu seinem Bruder, der ihn als Kind verprügelte.

Es ist äußerst interessant, in den Alltag der ehemaligen DDR einzutauchen und vom Heizen mit Braunkohle und Schlange stehen wegen einer der sehr seltenen Bananenlieferungen zu lesen. Außerdem erfahren wir von den Gartenzwergen der Datschenbesitzer, vom Risiko, auf der Straße grundlos einen unbekannten Ausländer zu grüßen, vom allgegenwärtigen Interesse der Stasi und davon, dass Homosexuelle anscheinend das Regime destabilisieren.

Fast 30 Jahre später wird Saul, inzwischen 56 Jahre alt, erneut auf der Abbey-Road angefahren. Wieder will er über den Zebrastreifen gehen, den die Beatles im August 1969 im Gänsemarsch überquert haben. Wieder kommt ein Jaguar auf ihn zu. Wieder hält er nicht an.

Ein Déja vue…

Aber Saul wird dieses Mal schwer verletzt. Er muss im Krankenhaus operiert werden. Der geringste Schaden ist der zersplitterte Außenspiegel des Fahrzeugs.

Sauls Kopfverletzung und das Morphium gegen die postoperativen Schmerzen führen zu geistiger Verwirrung. Die Zeit gerät durcheinander, Erinnerungen verrutschen und Inhalte verschieben sich. Sie liegen jetzt lose nebeneinander wie Puzzleteile, die darauf warten, zu einem Bild zusammengefügt zu werden. Sie liegen herum wie die Splitter des Außenspiegels der Unfallfahrzeuge… zusammenhanglos und unsortiert.

Deborah Levy hat eine schöne, bildhafte Sprache und erzählt lebendig und flott. Sie hält überraschende Entwicklungen und unvorhergesehene Wendungen bereit, was mich immer wieder staunen ließ und meine Neugierde auf das Kommende steigerte.

Ein Beispiel für eine wunderschöne bildhafte Formulierung möchte ich anführen: „… dass ich als Kind der Arbeiterklasse unter den feinen Pinkeln für Aufregung sorgte wie die Katze im Taubenschlag.“ (S. 30)

Es ist brillant, wie Deborah Levy den Leser überrascht, verblüfft, verunsichert, verwirrt und auf falsche bzw. unklare Fährten lockt. Was ist wahr, was ist fiktiv? Was ist Psychose, postoperatives Delir mit Wahnvorstellungen oder Halluzinationen, was ist Traum, Erinnerung, Fantasie oder gegenwärtige Realität? Was war früher, was ist heute?

Deborah Levy spielt mit den Wörtern, mit den Zeiten, mit dem Inhalt und letztlich mit dem Leser, der sich auf dieses Spiel einlassen muss, um ein überzeugendes Lesevergnügen zu erleben.

Der beeindruckende Roman der in Südafrika geborenen britischen Schriftstellerin Deborah Levy wurde für den Booker Preis nominiert und jetzt, nach der Lektüre, kann ich das sehr gut nachvollziehen.

Er ist auf faszinierende Weise packend, mitreißend und berührend und übt einen regelrechten Sog aus. Einmal begonnen, ist es schwer, die Lektüre zu unterbrechen.

Beim Zuklappen des Romans hatte ich das Gefühl, mich schütteln zu müssen wie ein Hund, der gerade triefend nass den See verlässt, in dem er gebadet hat. Warum? Um aus dieser Traumwelt aufzutauchen. Um wieder in der Realität anzukommen.

5/5

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