Estève, Julie: Ich, Antoine

Dieser kurze und in meiner Leserunde ziemlich kontrovers diskutierte Roman ist mal was ganz anderes – sowohl was Erzählweise und Sprache, als auch Inhalt betrifft … und mir hat‘s wunderbar gefallen!

Die Erzählweise ist originell, manche würden sagen: zu wenig chronologisch geordnet bzw. diffus.

Der Inhalt ist überraschend, bewegend und packend, manche würden sagen: unspektakulär mit unbefriedigendem Ende.

Die Sprache zog mich in den Roman hinein, ist unverblümt, roh, derb und für das beschriebene Milieu authentisch, manche würden sagen: es ist eine abstoßende Umgangs- und Fäkalsprache.

Der erste Satz ist bereits ein Paukenschlag und hat‘s in sich „Antoine Orsini ist tot…“

Die erste Szene, noch vor dem ersten Kapitel angesiedelt, ist gewaltig: Wir werden Zeugen eines Trauermarsches zum Friedhof, auf dem der Sarg mit Antoine in seine Grube hinabgelassen wird.

Absolute Stille, geheuchelte Tränen… und die alte Biancarelli spuckt sogar auf den Sarg!

Rückblende. 2016, ein Bergdorf auf Korsika.

Wir lernen den 63-jährigen Dorftrottel Antoine kennen. Er hat gerade einen kaputten Plastikstuhl neben einer Mülltonne entdeckt und beschließt, ihn nach Hause mitzunehmen.

Wir erfahren, dass er von den beschränkten, konservativen und rohen Dorfbewohnern mit wüsten und verächtlichen Wörtern wie „Spasti“ tituliert wird, dass er schon als Kind gehänselt wurde und schon immer ein Außenseiter war.

Wie erleichternd, dass seine Lehrerin Madame Madeleine ein Herz für ihn hatte und sich seiner annahm.

Auf dem Heimweg mit seinem Plastikstuhl unterm Arm meidet Antoine die alte Biancarelli, die Mutter der bereits vor 29 Jahren verstorbenen Florence.

Florence war damals 16 Jahre alt und Antoine fand ihre Leiche in einem Pinienwäldchen.

Er wurde für ihren Tod verantwortlich gemacht.

Er verbüßte dafür eine 15-jährige Haftstrafe…

Der Plastikstuhl wird Antoines Freund, um den er schon mal den Arm legt, mit dem er ganz gerne die Aussicht genießt, dem er Geschichten aus seinem Leben erzählt und dem er anvertraut, was damals passiert ist…

Julie Estève erzählt die tragikomische Geschichte von dem geistig zurückgebliebenen und emotional unterentwickelten Antoine, der eine blühende Phantasie, seine ganz eigene Logik und weder die Fähigkeit zu Empathie, noch ein Rechts- bzw. Unrechtsbewusstsein hat.

Den Ernst von Situationen kann er nicht einschätzen und kritische Gedankengänge sind ihm fremd. Stattdessen ist sein Denken sehr konkretistisch.

Mit kindlichem Ernst, altklug und gewieft manövriert er sich durchs Leben. Er trägt viele Aggressionen und Rachegefühle mit sich herum und hat keine Hemmungen, Geheimnisse auszuplaudern oder sich über Andere lustig zu machen …und wenn‘s sein muss, wird schon mal was geklaut oder er zieht eine Show ab, um kostenlos ins Kino zu kommen. (S. 10)

„Der hat einfach die Haustür sperrangelweit offen gelassen, so dass jeder rein konnte, und da hab ich geschwind nen Radiergummi, nen Kamm und eben den Wecker stibitzt. (S. 72)

Während ich zu Beginn noch recht viel Mitgefühl mit Antoine hatte, wurde er mir im Verlauf ziemlich unsympathisch und obwohl ich eine Liebhaberin der schönen Sprache bin, störte mich das Derbe und Rohe hier nicht… es passte einfach.

In dem 160-seitigen Buch gab es einen denkwürdigen und tiefgründigen Satz, der mit besonders gut gefiel, weil ich ihn so treffend finde: „Feinde geben dem Leben nen Sinn, wenn einem sonst keiner einfällt.“ (S. 25)

Die 1979 in Paris geborene Julie Estève ist eine präzise Beobachterin, die kein Blatt vor den Mund nimmt und angereichert mit brutalen Szenen, Witz und schwarzem Humor die spannende, bewegende und erschütternde Geschichte eines geistig und emotional eingeschränkten Mannes, einer lieblosen Familie und eines abgelegenen und zurückgebliebenen Dorfes erzählt. Und zwar kurzweilig, lebendig, detailliert und bildhaft.

Dass diese emotional intensive Geschichte als Monolog aus der Sicht des sehr einfach gestrickten Antoines völlig unspektakulär dargestellt wird und heftige Szenen von ihm bagatellisiert oder in ihrer Brisanz nicht erkannt werden, erhöht dabei das Schockierende an dem Ganzen.

Ich habe mich inzwischen zu einer rigorosen „Bücher-Aussortiererin“ entwickelt, aber dieses Werk darf bleiben.

5/5⭐️

🇫🇷

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