Semadeni, Leta: Tamangur

Das dünne kartonierte Buch mit dem schlichten, in beige und oliv gehaltenen Cover, auf dem ein Ziegenbock abgebildet ist, ist eine Augenweide. Vorsatzpapier und Lesebändchen in grün vervollständigen den hochwertigen äußeren Eindruck.

Das Kind, ein kleines Mädchen im Grundschulalter, lebt bei seiner Großmutter, die einst viel gereist ist und gern Klavier gespielt hat. Die beiden wohnen in einem Dorf, das sich in einem von Bergen umgebenen Tal in der Schweiz befindet. Der Ort „ist nicht mehr als ein Fliegendreck auf der Karte.“ (S. 8)

Der Großvater, ein Jägersmann mit Güte und Humor, ist seit einem Jahr in Tamangur, dem Paradies für Jäger. Er „hat es wahrlich verdient, in dieses Paradies eingelassen worden zu sein.“ (S. 22) …und das, obwohl „er sich ganz plötzlich aus dem Staub gemacht hat, dieser Feigling“. (S. 37)

Auch der kleine Bruder des Mädchens und seine Eltern glänzen durch Abwesenheit und sind wie der Großvater trotzdem und gleichzeitig ständig präsent.

Der Ort, das Kind und die Großmutter sind namenlos. Namen hat nur das Umfeld.

Beispielsweise Carlotta, die leicht schielende Strohpuppe mit Märzendreck auf der Nase, die eines Tages einer Erkundungs-Operation zum Opfer fiel.

Oder Elsa, eine der Seltsamen, die ein bisschen neben den Schuhen stehen, eine schöne Sprache und einen frischen Blick auf die Welt haben. Elsa besucht die beiden oft und hilft der Großmutter manchmal bei der Hausarbeit.

Oder Chan, der Hund der Großeltern, dessen Schnaufen das Kind beruhigt und der laut Großmutter der Vater sämtlicher Welpen im Dorf ist, obwohl er nur noch einen Hoden hat.

Oder der kleine drahtige Kasimir, für den Alkohol die Kaminfegerbürste für die Seele ist.

Oder die kleine pfiffige Luzia aus der Alpenrose, mit der es dem Kind nie langweilig wird.

Wir erfahren, warum es von Vorteil ist, katholisch zu sein, lesen von Käse im gezuckerten Kaffee, von wunderbaren Geschichten, die der Opa für sein Enkelkind erfindet und von den fünf langen, gelben Hirschzähnen des Großvaters, die beim Kind eine Hühnerhaut hervorrufen.

Bald schon ahnen wir, dass es vor nicht allzu langer Zeit eine Katastrophe gegeben haben muss, die zum Verschwinden des kleinen Bruders und der Eltern des Mädchens geführt hat. An dem Unglück scheint das kleine Mädchen seinen Anteil gehabt zu haben. Vielleicht war es sogar dafür verantwortlich? Manchmal wird das Kind von Schmerz, Sehnsucht, Albträumen und Schuldgefühlen heimgesucht.

Ich stieß immer wieder auf wunderschöne Formulierungen, die mich innehalten ließen:

„Die Erinnerung liegt dann überall herum wie ein schlafendes Tier und versperrt einem den Weg. Ständig muss man darüber stolpern, ihm ausweichen und wehe, man erwischt es mit der Fußspitze oder tritt gar aus Versehen drauf und es erwacht und trottet hinter einem her…“ (S. 20)

„Die Angst ist wie ein Jagdhund. Man muss ihn gut behandeln, aber man darf sich niemals von ihm beherrschen lassen.“ (S. 26)

„An gewisse Regeln muss man sich halten, sonst wird man haltlos, und die Großmutter hat etwas gegen Haltlosigkeit. Haltlosigkeit kommt kurz vor dem Absturz.“ (S. 43)

„Ich habe nicht verstanden, sagt Elsa, wie das ist mit der Angst. Kommt sie von außen und überfällt einen hinterrücks? Oder hockt sie in einem drin, igelt sich ein irgendwo in einem verborgenen Winkel… Und wenn man es am wenigsten erwartet, schlägt sie erbarmungslos zu?“ (S. 47)

„Oft ist das, was ein anderer oder eine andere sagt, nur halb so interessant wie das, was ich während eines inneren Spaziergangs mit mir selbst erlebe.“ (S. 117)

Man stolpert auch immer wieder über amüsante Stellen, die ein Schmunzeln hervorrufen:

„Warum sind deine Hände so groß?, fragt das Kind. Weil die Großmutter so große Brüste hat. Die müssen Platz haben, eine in jeder Hand.“ (S. 24)

„Tamangur“ ist ein stiller, warmer, sehnsüchtiger und poetischer Roman, der etwas Märchenhaftes und Zartes hat und bei aller darunter liegenden Dramatik und Traurigkeit mit Humor nicht geizt.

Obwohl über der Geschichte ein Wölkchen von Melancholie hängt, bekommt sie durch die teilweise heitere und aufrichtige Sprache, den liebevollen Ton und die ruhige Erzählweise eine Leichtigkeit.

Dieses außergewöhnliche Schmuckstück ist eine inhaltliche und sprachliche Wucht und wird einen bleibenden und besonderen Platz in meinem Bücherregal bekommen.

Das Prosawerk „Tamangur“ der 1944 geborenen Schweizer Poetin und Erzählerin Leta Semadeni hat 2016 den Schweizer Literaturpreis erhalten.

5/5

🇨🇭

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