Der Bauernjunge mit dem brillanten Gedächtnis und die „Drama-Queen“ aus adeligem Hause.
Es geht in diesem wunderbaren Roman um Liebe, Freundschaft, Solidarität, Loyalität, Rivalität, Menschlichkeit und Unmenschlichkeit vor dem Hintergrund unterschiedlicher Lebensrealitäten zur Zeit der deutschen Besatzung in der Normandie während des zweiten Weltkrieges.
Zu Beginn dieses 376-seitigen Romans, der erstmals 1980 erschien, berichtet uns der Ich-Erzähler Ludo von dem nur spärlich besuchten Museum in Cléry, einem abgelegenen Dorf in der Normandie, das Ludos bereits verstorbenen Onkel Ambroise Fleury und dessen Papierdrachen gewidmet ist, die alle einen liebevoll ausgewählten Namen tragen, oft Personen aus der französischen Geschichte darstellen und einst dem Blau des Himmels hinterher jagten.
Ambroise Fleury war ein warmherziger, friedliebender und heiterer Landbriefträger, der in seiner Freizeit mit Leidenschaft diese unterschiedlichsten und originellen Flugobjekte baute und der von Einheimischen und Besuchern sowohl augenzwinkernd als auch mit einer Mischung aus Ernst, Spott und Gehässigkeit, als „leicht durchgeknallt“ (S. 8) bezeichnet wurde.
Bei ihm wuchs der Ich-Erzähler Ludo auf, nachdem sein Vater im ersten Weltkrieg gefallen und seine Mutter kurz danach gestorben war.
Wie alle Fleurys ist Ludo mit einem erstaunlichen, bewunderns- und beneidenswerten Gedächtnis ausgestattet.
Kaum vernommen oder gelesen, schon sind die Informationen abgespeichert und abrufbar. Darüber hinaus hat Ludo ein besonderes Rechentalent.
Wir begegnen in diesem Roman neben einigen anderen äußerst interessanten Figuren, zwei ungewöhnlichen und aus der Masse durch besondere Begabungen und Beschäftigungen hervorstechenden Sonderlingen, die durch eine gewisse Weltfremdheit glänzen: Ludo und seinem Onkel Ambroise
Eines Tages im Juni 1932 taucht im Wald bei La Motte, einem Örtchen in der Nähe von Cléry, ein forsches, fesches und hochnäsiges blondes Mädchen mit Strohhut auf und isst wie selbstverständlich die vom fast 10-jährigen Ludo gepflückten Walderdbeeren auf.
Ludo fängt sofort Feuer für diese rätselhafte Erscheinung, aber nach dieser Begegnung verschwindet sie spurlos und er verfällt in quälendes Warten.
Quälend? Nach nur einer Begegnung?Ja!
Denn aufgrund seines außerordentlich guten Gedächtnisses kann er nicht vergessen…weder Emotionen noch Inhalte.
Im weiteren Verlauf erfahren wir, dass Ludo bereits mit 14 Jahren sein Abitur und nebenbei die Buchhaltung für ein benachbartes renommiertes Lokal gemacht hat, dass er herausfindet, dass es sich bei der schönen Unbekannten um die Polin Elisabeth de Bronicki, genannt Lila, handelt, deren adelige und reiche Eltern in der Nähe von La Motte einen Sommersitz in einem beeindruckenden Herrenhaus haben und dass ebendieses Mädchen, das eine lebhafte Fantasie und ein vorlautes Mundwerk hat, vier Jahre später wieder auftaucht und Ludo auf diesen noblen Sommersitz ihrer außergewöhnlichen Familie einlädt.
Ludo kommt in einem denkbar unpassenden und dramatischen Moment an und wird von den Eltern des Mädchens desinteressiert und herablassend empfangen. Von Bruno, dem klavierspielenden und in anderen Sphären schwebenden 16-jährigen Adoptivbruder wird er ignoriert und von ihrem ebenfalls 16-jährigen leiblichen Bruder Tad wird Ludo freundlich begrüßt und … gewarnt. Er solle lieber das Weite suchen.Ludo ist verwirrt, aufgewühlt, emotional hin- und hergerissen und ratlos…
Lila verdreht Ludo den Kopf und der naive Ludo, der blind vor Liebe zu ihr und oft nicht weit entfernt vom Liebeswahn ist, nimmt sich vor, über sich hinauszuwachsen, um sie zu erobern.
Eines Tages wird Ludo unerwartet und aus unerklärlichen Gründen von einem ihm unbekannten Jungen mit langen blonden Haaren angegriffen.
Im weiteren Verlauf tätigt Ludo, der Junge aus einfachen Verhältnissen, den Schritt in die elegante und schillernde Welt der Bronickis.
„Der Neffe des berühmten Ambroise Fleury“ (S.56) bewegt sich nun regelmäßig in der feinen Gesellschaft, in der er sich nachvollziehbarer Weise nicht so ganz zu Hause fühlt.
Bei einem seiner Besuche auf dem luxuriösen Anwesen der Familie seiner theatralischen Freundin Lila, „die am liebsten von sich selbst träumt“, stellt sich dann nicht nur heraus, dass der mysteriöse Angreifer ihr förmlicher und arroganter 14-jähriger Cousin Hans ist, der ihr ebenfalls verfallen ist, sondern wird Ludo gedrängt, seine Fähigkeiten als „mathematisches Wunderkind“ (S. 64) vor Publikum unter Beweis zu stellen.
Diese gelungene Aufführung des Rechengenies beeindruckt Lilas Vater Stas Bronicki, Finanzgenie, Spekulant und Spieler, zutiefst und er bietet an, Ludo und seine Zukunft (aus nicht ganz uneigennützigen Gründen) zu fördern.
Die Geschichte nimmt ihren Lauf, wird immer intensiver und spannender. Wir lesen von Ludos Besuch auf dem Schloss der Bronickis in Polen, von einem dritten Verehrer Lilas, vom Vorabend und Beginn des zweiten Weltkriegs, davon, wie Ludo mit der hellsichtigen und gewieften jüdischen „Puffmutter“ Madame Julie ins Geschäft kommt, wie sich die Résistance formiert und wie Ludo und Lila getrennt werden.
Für immer? Das und alles andere werde ich natürlich nicht verraten…
Über der Geschichte, die rückblickend aus der Sicht Ludos erzählt wird, liegt v. a. zu Beginn ein Touch von märchenhafter Erzählweise und bezaubernder Sprache. Durchgehend überraschen uns poetische Formulierungen sowie eine ausgefeilter Sprache. Im Verlauf verliert sich das Märchenhafte. Die Sprache wird dem Zeitgeschehen angemessen nüchterner, klarer und realistischer.
Bezüglich des sprachlichen Ausdrucks von Romain Gary kam mir immer wieder der englische Begriff „sophisticated“ in den Sinn, für dessen Bedeutung mir jedoch leider kein wirklich treffender und passender deutscher Begriff einfällt. Es geht in Richtung „anspruchsvoll“ und „raffiniert“, hat aber auch etwas von „gestelzt“…
Immer wieder wird der Leser mit wunderschönen poetischen Phrasen überrascht, wie z. B.
„Ich wollte irgendetwas sagen, denn man muss immer Zuflucht in Worten suchen, um das Schweigen daran zu hindern, allzu laut zu werden…“ (S. 115)
„Mein Gedächtnis erfasste jeden Augenblick, legte ihn beiseite; bei uns nennt man das „Sparstrumpf“, und was da drin war, reichte für mein ganzes Leben.“ (S. 148)
„Niemand hatte jemals drei Männer gesehen, die stummer über Dinge schwiegen, die sie sich zu sagen hatten.“ (S. 191)
Dass die Drachen und deren „Jagd nach dem Blau“ immer wieder in ihrer Symbolik aufgegriffen werden oder Assoziationen hervorrufen, gefällt mir: Höhenflüge machen, Träume haben, sich im Zaum halten, auf dem Boden bleiben, die Leine locker lassen, etwas hinterher jagen oder die Zügel straffen…
Scharfzüngige, sarkastische und witzige Formulierungen, die einem auf der Zunge zergehen, machen das Werk zu einem Lesevergnügen.
Die Personen werden in ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit gezeichnet. Uns begegnen völlig unterschiedliche Charaktere, wobei ein jeder für sich in all seiner Komplexität und Vielschichtigkeit gezeichnet wird.
Die gespannte, ungewisse und bedrohliche Atmosphäre im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges und während der Jahre des Schreckens wird wunderbar vermittelt. Ebenso die Gefühlswelt von Ludo, das Getriebene und Suchende von Lila, das Resignative und Künstlerische von Bruno, das angestaubt, unzeitgemäß und selbstgefällig Wirkende von Hans, das Scharfsichtige und Kluge von Tad und das Knistern der Rivalität zwischen den drei jungen Männern.
Man sollte sich meines Erachtens Zeit nehmen und den Roman aufmerksam lesen, damit einem nichts entgeht. Weder die schöne Sprache, noch die bildhaften Beschreibungen oder die authentische Atmosphäre.
Es ist kein Roman, den man en passant oder, müde vom Tag, kurz vor dem Schlafen lesen kann, weil die Sprache gleichermaßen gehaltvoll wie anspruchsvoll und das Buch, das trotz der Schwere seiner Thematik ein Plädoyer für Mut, Zuversicht, Durchhaltevermögen, Loyalität und Solidarität ist, kein ganz einfach und nebenbei zu lesender Unterhaltungsroman ist.
Das Eintauchen in diese andere Zeit und Welt und das Kennenlernen dieser völlig unterschiedlichen und wunderbar sezierten Charaktere, die sich im Verlauf des Romans verändern und entwickeln, war berührend, bewegend, herzerwärmend und erschütternd und bereitete mir neben Momenten des Nachdenkens und Erschauderns auch viel Vergnügen und Genuss.
Sehr gelungen und bereichernd fand ich, dass wahre historische Gestalten und Ereignisse, wie z. B. Ilse Koch, das Stauffenberg-Attentat und das Dorf Le Chambon-sur-Lignon, ein Örtchen in den Cevennen, dessen Bewohner mit vereinten Kräften jüdische Menschen gerettet haben, erwähnt wurden und eindrucksvoll war für mich, den zweiten Weltkrieg durch die Brille der französischen Widerstandsbewegung, der Résistance, zu erleben.
Realität eingebettet in Fiktion. Schwere verpackt in Poesie. Dramatik und Tragik neben Hoffnung und Leichtigkeit.
Sehr Lesenswert!
Unbedingte Empfehlung!
5/5☀️
🇵🇱 🇫🇷
Gerade habe ich das Buch beendet und bin nachhaltig beeindruckt von der an jeder Stelle spürbaren Menschlichkeit.
„Es gibt keine Menschen niederer Herkunft.“ Dazu die Kraft der Fantasie, des Verzeihens, des Verständnisses für das Gegenüber, was immer es auch getan haben mag. „Es kommt vor, dass ich mich schäme, ein Mensch zu sein, die gleichen Hände zu haben, den gleichen Kopf wie sie …“
Der differenzierte Umgang mit der Schuld auf allen Seiten, das schon früh im Roman auftauchende Motto „Bei Sinnen bleiben“ oder „Den Sinn seines Lebens bewahren“.
Das wird mir alles lange in Erinnerung bleiben, nachdem ich schon versucht war, den Roman nach den ersten 100 bis 140 Seiten enttäuscht aus der Hand zu legen. Danach konnte ich vor Begeisterung nicht mehr aufhören.
Vielen Dank für den Tipp.
Interessant ist auch ein Blick in die Besprechung des Buches:
https://www.deutschlandfunk.de/neues-von-romain-gary-liebesgeschichte-zur-resistance.700.de.html?dram:article_id=458875