Mellem, Daniel: Die Erfindung des Countdowns

Die Handlung des Romans „Die Erfindung des Countdowns“ von Daniel Mellem erstreckt sich über 7 Jahrzehnte, von 1899, als der Protagonist Hermann Oberth fünf Jahre als war, bis zum 16. Juli 1969, als die USA mit dem Start von Apollo 11 Raumfahrt-Geschichte schrieb.

Originell und passend zu Titel und Inhalt, sind die von 10 aus rückläufigen Zahlen, die als Kapitelüberschriften gewählt wurden.

Das vorangestellte Interview mit dem Autor verrät nicht zu viel, ist äußerst interessant und stimmt auf das Folgende ein:

Der Leser bekommt einen kleinen Einblick in die, m. E. sehr gründliche Recherchearbeit des Autors und promovierten Physikers Daniel Mellem und erfährt einige seiner Gedanken zum Thema Wissenschaft.

Dieses Intro vermittelt auch bereits ein erstes Bild vom Protagonisten Hermann Oberth, einem in entsprechenden Kreisen weltberühmten Pionier der Raketentechnik, dessen Konterfei Briefmarken schmückt, dem diverse Denkmäler gesetzt wurden und dessen Name seit 1999 ein Asteroid trägt.

Mir selbst war dieser Physiker bislang kein Begriff und schon deshalb war es für mich bereichernd, diesen Roman zu lesen, der auf unterhaltsame Art eine meiner Wissenslücken schloß.

Die Beschäftigung mit der Geschichte Siebenbürgens war aus dem gleichen Grund für mich auch äußerst interessant und förderlich.

Nach dem Interview reisen wir zurück ins Jahr 1899 und begeben uns nach Schäßburg an der Kokel, damals eine kleine siebenbürgische Stadt, die innerhalb der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie zu Ungarn gehörte, heute eine der bedeutendsten Städte im Kreis Mures in Siebenbürgen, Rumänien, deren historisches Zentrum 1999 zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt wurde.

Der Roman beginnt mit einer dramatischen und erschütternden Szene:

Hermann und sein kleiner Bruder Adolf entdecken nach einem Wettrennen einen Büffel im Fluss und Hermann fällt doch tatsächlich nichts Besseres und Klügeres ein, als dem Büffel ins Auge zu fassen.

Natürlich bleibt das nicht ohne Konsequenzen.

Rippenbruch und Krankenhausaufenthalt folgen.

Diese Szene beschäftigte mich sehr und ich fragte mich, ob sie verschlüsselt schon die Frage aufwerfen soll, wo die Grenzen von Neugierde, Forschung und Wissenschaft sind, die m. E. hinter den Kulissen des Romans lauert.

Wie unangenehm für den kleinen Tierquäler, dass der Krankenhausdirektor auch noch sein Vater, ein angesehener, ehrgeiziger, tüchtiger und pflichtbewusster Arzt ist, dem es gar nicht gefällt, dass sein Sohn ihm mit so einem flegelhaften Verhalten die Zeit stiehlt.

So dramatisch wie das Buch begonnen hat, geht es weiter, als in einer Szene geschildert wird, wie eisern und abgebrüht eben dieser o. g. Vater ist, von dem man auf den nächsten Seiten auch noch den Eindruck bekommt, dass er eine äußerst gnadenlose und unerbittliche Seite hat.

Im weiteren Verlauf lernen wir Hermann als klugen, wissbegierigen, experimentierfreudigen, impulsiven, aber wenig redegewandten und motorisch etwas ungeschickten Grundschüler kennen, der gern Grenzen überschreitet und oft in Phantasien und Tagträumen versinkt.

Eines Nachts darf er, um zur Ruhe zu kommen, durch das Teleskop seines Vaters schauen und eines Tages schenkt seine Mutter ihm den Roman „Reise um den Mond“ von Jules Verne… und da erwacht sein Wunsch, auf den Mond zu gelangen.

Die Idee von einer Rakete, die Menschen zum Mond bringt, wird schon bald geboren und einige Jahre später auch die Vorstellung und der Plan von eine „Fernrakete, die den Krieg entscheiden kann“.

Im Laufe seiner Schulzeit entwickelt Hermann sich zu einem Eigenbrötler, der seinen wissenschaftlichen und fortschrittlichen Gedanken nachhängt, nicht annähernd so gesellig ist wie sein kleiner Bruder und der von seinen Mitschülern nicht selten belächelt wird.

Auf einem Konzert vom Chor der Mädchenschule wird er, inzwischen ein Gymnasiast, auf ein blondes Mädchen mit Zöpfen aufmerksam. Jahre später wird er eben diesem Mädchen, inzwischen eine gewitzte und kesse junge Dame, über eine Räuberleiter Eintritt in ein Lokal verschaffen.

Noch ein bisschen später wird er sie um einen Tanz bitten und schließlich wird er um ihre Hand anhalten.

Und das ist, meine ich, eine wunderbare Entscheidung, den Tilla, die Schneiderin, ist eine sympathische, interessierte, offene, anpackende und tüchtige Frau mit Humor, die dem introvertierten Hermann bald vier Kinder schenken und ihm den Rücken freihalten wird.

Nicht jede Frau hätte so geduldig, gutmütig aber auch resolut ihr Leben im Schatten der Wissenschaft ertragen und noch dazu das Beste daraus gemacht. Tilla beeindruckte mich durchweg. Die Vielschichtigkeit ihres Charakters wurde, genauso wie die Entwicklung und Veränderung ihrer Persönlichkeit wunderbar gezeigt.

Weit weniger erfreulich als Eheschließung und Familiengründung ist, dass der erste Weltkrieg anklopft.

Hermann soll 1915 in der Schlacht für die österreichisch-ungarische Donaumonarchie in den Karpaten kämpfen, stellt sich bereits bei den Schießübungen äußerst ungeschickt an, und wird deshalb Sanitätsfeldwebel im Schäßburger Spital, wo er furchtbare Verletzungen und Verstümmelungen sieht und mit Gasbrand konfrontiert wird.

Auf seines Vaters Wunsch hin soll er Arzt werden, was er jedoch nicht will. Schweren Herzens nimmt er letztlich all seinen Mut zusammen und erklärt dem Vater, dass er Physik studieren wird.

Und das tut er auch… in Göttingen.

Seine Leidenschaft für das Studium, v. a. sein Ehrgeiz, eine Rakete, Weltraum- oder Kriegsrakete, zu erfinden und seine Erschöpfung sind geradezu spürbar.

Er hat den Kopf nur bei seinen Forschungen, so dass man regelrecht erleichtert aufatmet, als seine Frau Tilla mit dem gemeinsamen Söhnchen Julius nachkommt, um gemeinsam mit ihm in Deutschland zu leben.

Viel mehr möchte ich über den Inhalt nicht verraten, da ich niemandes Lesevergnügen mindern möchte.

Stichwortartig und grob gesagt: Einfach und langweilig wird Hermanns und Tillas Leben nicht!

Daniel Mellem zeichnet die Charaktere und ihre Beziehungen in all ihrer Komplexität, Individualität und Vielschichtigkeit, wodurch man es mit Menschen mit Ecken und Kanten zu tun hat.

Über Tilla habe ich bereits weiter oben so Einiges geschrieben.

Was Hermann Oberth anbelangt, gilt das Gleiche.

Er wird derart genau seziert und beschrieben, dass man ein sehr klares Bild von seiner äußerst extremen Persönlichkeit bekommt.

Er ist einerseits ein hochintelligenter, detailverliebter und konkretistischer Utopist, andererseits ein alltagsuntauglicher Mann mit autistischen Zügen, dem es an emotionaler Intelligenz, zwischenmenschlichen Fähigkeiten und Empathie mangelt.

Einerseits lebt er, der definitiv kein Sympathieträger ist, in der Zukunft, andererseits fehlt es ihm an Weitsicht.

Einerseits ist er ausgesprochen selbstbezogen, andererseits treibt er Schindluder mit seinem Körper und seiner Gesundheit.

Der Roman ist insgesamt ziemlich nüchtern geschrieben, was aber bei einem solch rationalen Protagonisten nur folgerichtig ist. Die recht sachliche Sprache passt zu dem „verkopften“ Wissenschaftler.

Trotzdem ist die Geschichte überwiegend unterhaltsam, manchmal, v. a. aufgrund von Tillas schlagfertigen Bemerkungen amüsant und ab und zu bewegend und berührend.

Daniel Mellem rast in großen Schritten durch die Geschichte und durch Hermanns Biografie, wodurch sie episodenhaft wirkt, was aber wohl gar nicht anders möglich ist, wenn man sieben Jahrzehnte auf 279 Seiten unterbringen will/muss.

Die Sprünge hätten wahrscheinlich flacher gestaltet werden können, wenn der Autor die Zeit zwischen den Episoden ausgeschmückt hätte. Aber schmückendes Beiwerk und Hermann Oberth würden sich genauso widersprechen, wie poetische Sprache und Hermann Oberth.

Insofern ist alles stimmig.

Trotzdem wurde ich nicht so richtig warm mit dem Buch.

Das lag am emotionslosen Schreibstil, an der für mich persönlich eher trockenen Materie und tendenziell weniger interessanten Thematik (Physik, Raketentechnik, Raumfahrt) und an den fehlenden weichen und fließenden zeitlichen Übergängen.

V. a. der Punkt mit der trockenen und weniger interessanten Thematik ist natürlich äußerst subjektiv und anderen Lesern mag es da völlig anders gehen!

Alles, was ich hier kritisch anmerke stellt also keinen Qualitätsmangel dar, sondern entspringt der Tatsache, dass der Roman und ich nicht so ganz auf der gleichen Wellenlänge schwingen.

Ich kann und möchte dieses Buch gerne weiterempfehlen.

Es ist eine fundiert recherchierte und interessante Romanbiographie über einen eher unbekannten aber bedeutenden Wissenschaftler, der, obwohl viele Grundlagen für den Raketenbau von ihm stammen, doch nur eine Randfigur blieb, weil er sich und seine Ideen nicht gut verkaufen konnte.

Eine tragische Person? Erst belächelt, dann kaltgestellt, dann geehrt…

Der Roman liest sich flüssig und leicht und hinterher weiß man definitiv mehr als vorher.

4/5⭐️

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7 Gedanken zu “Mellem, Daniel: Die Erfindung des Countdowns

  1. Hallo Susanne,

    Du schreibst: Das vorangestellte Interview mit dem Autor verrät nicht zu viel, ist äußerst interessant und stimmt auf das Folgende ein:

    Ich kann kein vorangestelltes Interview im Buch entdecken. Der Roman beginnt direkt mit Kapitel 10
    Erst ganz am Ende kommt noch 1, 5 Seiten vom Autor und Danksagung.

    1. Herzlichen Dank, liebe Petra, für diesen Hinweis.💐Ich habe die Jahreszahl natürlich sofort korrigiert.
      Ich freue mich total, dass Du meine Rezensionen so aufmerksam liest🤗
      Herzliche Grüße,

      1. Liebe Susanne,

        immer wieder gerne. Ich lese im Moment auch das Buch und wollte danach ebenfalls eine Rezension schreiben. 🙂
        Mein Blog wird hoffentlich im November stehen. Ich mache noch eine dreitägige Schulung dann bin ich hoffentlich fit dafür.

        LG
        Petra

        1. Wow! Du machst da eine Schulung. Toll. Ich habe mich da ganz auf meine Tochter verlassen, die mir engagiert und geduldig meinen Wunsch von einem eigenen blog erfüllt hat. War sehr bequem 🤗

          Ich freue mich schon darauf, deine Rezension zu lesen und in deinem künftigen blog herumzustöbern.

          Liebe Grüße,
          Susanne

          1. Liebe Susanne,

            die Erfindung des Countdowns hat es mit dem Jahr 2020. Schau dir mal die S. 131 an.
            „Der Vertrag läuft bis zum 31.12.2020.“ 🙂

            Zu meinem Blog: Ja, meine Tochter hilft mir auch. Aber sie ist Dr. der Volkswirtschaft und manchmal sehr penibel. Also muss ich im Vorfeld auch erst mal einiges wissen mir aneignen. Zumal die rechtliche Seite für sie einen hohen Stellenwert einnimmt. Naja, so unrecht hat sie nicht. Wissen ist ja nie verkehrt. Dann bis bald. LG Petra

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