Der Roman „Die Mandelpflückerin“ von Simonetta Agnello Hornby ist eine echte literarische Perle.
Er spielt im kleinen Städtchen Roccacolomba in Sizilien.
Gleich zu Beginn beobachten wir Doktor Mendicò, der im September 1963 am Bett der sterbenden Mennulara sitzt und ihre Hände hält.
Mennulara, die mit nur 55 Jahren verstirbt, war bereits in ihrem 7. Lebensjahr eine äußerst geschickte Mandelpflückerin, was ihr ihren Spitznamen eingebracht hat.
Seit ihrem 14. Lebensjahr war sie das Dienstmädchen der Familie Alfallipe. Mit der Zeit erfahren wir, dass sie weit mehr als nur ein Dienstmädchen war.
Sie war gleichzeitig Magd, wie auch Verwalterin und Geschäftsfrau.
Sie war eine Bedienstete, die ihren Herrschaften treu ergeben war und lenkte gleichzeitig deren Geschicke.
Mennulara war untergeben und mächtig zu gleicher Zeit.
Ihre Herrschaften standen gesellschaftlich über ihr und waren gleichzeitig von ihr abhängig.
Schon auf den ersten Seiten zieht mich die Familiengeschichte mächtig an. Ich möchte nicht mehr aufhören zu lesen.
Neugierig frage ich mich, was es mit der Mennulara, die von ihrer Herrin, der Witwe Signora Adriana, geschätzt, von deren Schwiegersohn Massimo hingegen abgrundtief gehasst wird, auf sich hat.
Die Abneigung scheint auf Gegenseitigkeit zu beruhen, denn die Mennulara hat Massimo zu Lebzeiten verboten, auch nur einen Fuß über die Schwelle ihrer Wohnungstür zu setzen.
Mit ihrem Testament löst die Mennulara v. a. bei Massimo großen Ärger aus. Er hat darauf gehofft, Geld zu erben.
Auch Lilla, eine der beiden Töchter des Hauses ist erzürnt über die klar formulierten Erwartungen und Anweisungen im Testament der Hausangestellten.
Carmela, die zweite Tochter, ist ebenfalls wütend, denn die Todesanzeige, die sie auf Wunsch der Verstorbenen in eine große Tageszeitung setzen sollen, ist so formuliert, dass man meinen könnte, Mennulara sei eine geschätzte, ja sogar geliebte Familienangehörige gewesen.
Aber eine geschätzte oder gar geliebte Familienangehörige war sie zumindest bei den drei verwöhnten und selbstbezogenen Nachkommen des Hauses, Lilla, Carmela und Gianni, nicht. Das wird nach wenigen Seiten mehr als deutlich.
Die Mennulara, ihr Leben und ihr Tod bieten den Bewohnern des Ortes unendlich viel Gesprächsstoff und Themen zum Spekulieren.
Über die mehr oder weniger seriösen Gespräche, sowie Klatsch und Tratsch unter den anderen Dienstboten oder Herrschaften des Örtchens, durch Streitgespräche innerhalb der Familie Alfallipe sowie durch Erinnerungen z. B. des Hausarztes Doktor Mendicò lernen wir die Mennulara, die Alfallipes und das Leben in Roccacolomba nach und nach besser kennen.
Schon sehr bald hat man den Eindruck, mitten in dem sizilianischen Bergdorf Roccacolomba zu sein, das auf einer Erhebung errichtet und von Hügeln und Bergen umgeben ist. Man sieht die engen Gassen und steilen Treppen vor sich und erblickt tuschelnde Leute in den Cafés und Wäschleinen vor den Fenstern der Häuserfassaden.
Hautnah, oft mit einem Schmunzeln und manchmal mit einem Kopfschütteln, lauscht man den Gesprächen und beobachtet man die Bewohner.
Schon auf den ersten Seiten begegnen wir einer Vielzahl von Personen und Namen.
Der Sorge, man könnte den Überblick verlieren und über kurz oder lang nichts und niemanden mehr zu- oder einordnen, könnte man begegnen, indem man sich Stichpunkte zu den einzelnen Figuren macht.
Aber eigentlich reicht es völlig aus, darauf zu vertrauen, dass man am Ende den Durchblick hat.
Man kann, anfangs zwar etwas verwirrt oder überfordert, letztlich aber gespannt und gebannt in diese sizilianische Bergwelt eintauchen.
Mir gefiel die wunderschöne, lebendige und bildhafte Sprache und an machen schönen, oft auch humorvollen Formulierungen blieb ich kurz hängen:
„Pietro Fatta war kein gesprächiger Mensch und seine Frau Margherita respektierte seine Schweigsamkeit. Sie hatte gelernt, mit sich selbst Konversation zu führen, wenn sie Gesellschaft brauchte.“ (S. 45)
„Oft hob man Leckereien und Backwerk für sie auf, sie war ein richtiges Schleckermaul; das hatte sich im rundlichen Äußeren einer Frau mit behäbigem Lebensstil geäußert – was immer der erste Schritt zum endgültigen Altjungferndasein war.“ (S. 56)
Der Roman „Die Mandelpflückerin“ wird zu meinen Highlights des Jahres 2022 gehören.
Diese originelle Geschichte mit ihrer äußerst gelungenen Darstellung komplexer sozialer Geflechte um eine interessante, vielschichtige, kluge und stolze Frau konnte mich überzeugen. Dass nebenbei die sizilianische Lebensweise der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, gesellschaftliche Aspekte und Mafiamachenschaften eine Rolle spielen, macht die Geschichte noch lesenswerter.
Es ist äußerst interessant und berührend, am Ende des Buches über diese Frau und ihr tragisches Schicksal im Bilde zu sein.
Die Autorin kreiert dieses zunächst rätselhafte Bild äußerst raffiniert und schafft dabei einen Spannungebogen, der bis zum Ende hält und auf diese Weise bewirkt, dass man nur so durch die Seiten fliegt.
Ich empfehle diesen Roman von Simonetta Agnello Hornby sehr gerne, auch wenn er anfangs durch die bereits oben erwähnten zahlreichen Charaktere etwas irritiert.
5/5 ⭐️
🇮🇹