Brökel, Sandra: Pavel und ich: eine Spurensuche

Mit diesem Buch, einer wahren Geschichte, habe ich den zweiten Schritt vor dem ersten getan.
Es ist die Geschichte hinter der Geschichte.
Es ist die Entstehungsgeschichte von „Das hungrige Krokodil“.

Letztlich wurde Sandra Brökel von ihrer inzwischen verstorbenen Freundin Paula zu einer Prag-Liebhaberin gemacht und zu dem Roman „Das hungrige Krokodil“ inspiriert.

Aber jetzt erstmal langsam und Schritt für Schritt zum Buch:

Im Juni 2019 ist Sandra Brökel wieder in Prag, um ihren Roman „Das hungrige Krokodil“, den sie zwei Jahre zuvor geschrieben hat, im Prager Literaturhaus zu präsentieren.
Eine ganz besondere Lesung ist das, denn die Autorin liest zum ersten Mal „ausschließlich vor Menschen, die wirklich erlebten, worin ich nur literarisch eintauchte.“ (S. 22).

Nach der Lesung trifft sich Sandra Brökel mit einem Teilnehmer, der sich
dafür interessiert, warum sie das Buch geschrieben hat.

Die (natürlich wahre) Geschichte, die sie ihm daraufhin erzählt, beginnt im Sommer 2008 in Arnsberg im Sauerland.

Dort wäre sie wohl aufgewachsen, wenn sie nicht ihre ersten Lebensjahre in einem Kinderheim verbracht hätte.

Die Mittdreißigerin Sandra Brökel sucht diesen Ort, an dem ihr leiblicher Vater gelebt hat, 2008 im Rahmen der Suche nach ihren Wurzeln auf.

Kurze Zeit vorher ist sie bereits erstmals ihrer leiblichen Mutter begegnet.

Jetzt steht sie ihrer herzlichen, temperament- und humorvollen Großmutter väterlicherseits gegenüber.

Ein Wimpernschlag und Sandra Brökel, Ehefrau und zweifache berufstätige Mutter hat zusätzlich zu den Adoptiveltern plötzlich auch noch leibliche Eltern. Dass das aufregend, herausfordernd und aufwühlend ist, vermittelt sie in ihrem Text sehr anschaulich.

Plötzlich mit vier Elternteilen konfrontiert, begann Sandra Brökel sich Fragen zu stellen und zu recherchieren.
Und dabei stieß sie auf den Prager Kinderarzt und Psychiater Dr. Pavel Vodák, der in den 1960er Jahren zwei interessante Werke verfasst hat: „Probleme mit adoptierten Kindern.“ und „Adoptierte und ihre Familien“. (S. 62).

Und so begann Pavel, in ihrem Kopf herumzuspuken – v. a., als sie 2014 realisierte, dass sie seine Tochter gut kennt: Paula.

Eine Passage hat mich besonders nachdenklich gemacht:
Adoptiveltern könnten die abgetrennten Wurzeln nicht ersetzen. Ein Mensch sei wie ein Baum: ohne Wurzeln könne er den Stürmen des Alltags nicht standhalten. (S. 60)
Der Meinung bin ich als Psychoanalytikerin auch. Man braucht ein sicheres und festes Fundament, aber ich frage mich, ob Adoptiveltern einem nicht auch solche Wurzeln in Form von Halt und Sicherheit geben können? Hat das Sandra Brökel anders erlebt oder habe ich sie nicht richtig verstanden?

Ausführungen auf Seite 95 ließen mich auch länger innehalten. Sandra Brökel schreibt über die Bedeutsamkeit der subjektiven Bewertung von Erlebtem.
Dem stimme ich uneingeschränkt zu.
Wobei der kognitive Entschluss zu einer anderen Bewertung nicht der erste bzw. ausschlaggebende Schritt ist, der zu einer tiefgründigen und nachhaltigen emotionalen Umbewertung führt.
Erst das Durchleben, Durcharbeiten und Verarbeiten der verschiedensten Gefühle ermöglicht eine andere Bewertung. Man muss also auch wütend und zornig gewesen sein, bevor man einen inneren Frieden schließen kann.
Aber auch an dieser Stelle bin ich nicht ganz sicher, ob ich die Autorin richtig verstanden habe.

Einem sehr schön und treffend formulierten Satz kann ich schon von Berufswegen zustimmen: „Der Weg führte also in die Vergangenheit, um in der Zukunft leben zu können.“ (S. 60/61)

Welch gleichermaßen humorvoll formulierter und inhaltlich wahrer Satz: „Sich einfach mal betrinken und die Sorgen ersäufen. Dieser Versuchung erliege ich nicht, denn ich weiß, dass Probleme schwimmen können.“(S. 142)

Der Text regt zum Nachdenken an. Man macht sich fast zwangsläufig Gedanken über Heimat, Flucht, Halt und Stabilität in der Familie, Adoption, Bedeutung der leiblichen Eltern und der leiblichen Familie und über im größeren und metaphorischen Sinne „das Schuldgefühl der Überlebenden“.

Ich bin so froh und erleichtert, dass Paula vor ihrem eigenen Tod mit ihrem Vater und mit ihrer Biografie ins Reine gekommen ist. Das lässt zumindest die beruhigende Vermutung zu, dass sie diese Welt mit einer Art innerem Frieden verlassen konnte.

Sandra Brökels Schreibstil ist locker, lebendig und trotz der ernsthaften Grundthematik immer wieder angemessen humorvoll. Sie schreibt feinfühlig und berührend und erschuf ein gleichermaßen unterhaltsames wie informatives Werk voller Wehmut, Sehnsucht und Wertschätzung für ihre Freundin Paula und voller Respekt und Ehrgefühl für Pavel Vodák, die Stadt Prag und deren Geschichte.

Schon bald übte ihr Buch einen Sog auf mich aus und ich hatte das Gefühl, dass mir Sandra Brökel in gemütlicher Atmosphäre sehr authentisch und natürlich etwas sehr Persönliches erzählt. Und damit hat sie mich gepackt.

Vielleicht wäre es ratsam, dieses Buch erst nach dem „hungrigen Krokodil“ zu lesen, weil sich der ein oder andere Leser sonst gespoilert fühlen könnte.

Mir persönlich ging es jedoch nicht so.
Die Lektüre von „Pavel und ich“ hat mich eingestimmt und noch neugieriger auf „Das hungrige Krokodil“ werden lassen, als ich es ohnehin schon war.

Absolute Leseempfehlung!

4/5⭐️

4 Gedanken zu “Brökel, Sandra: Pavel und ich: eine Spurensuche

    1. Es freut mich sehr, dass dir meine Rezension Lust darauf gemacht hat. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dir die Bücher gefallen werden.
      Liebe Grüße,
      Susanne

  1. Liebe Susanne!
    Ganz herzlichen Dank für diese wunderbare Rezension! Sehr differenziert und für mich persönlich wertvoll!
    Nur kurz – für die anderen Blogleser:
    – Ja. Ich empfinde das (subjektiv!) so, dass auch die liebevollsten Adoptiveltern die abgetrennten Wurzeln nicht zu 100% ersetzen können. Das ist vielleicht ähnlich wie bei Geflüchteten/Vertriebenen: Sie finden eine neue Heimat, richten sich ein und fühlen sich wohl, aber es kann die Heimat nicht ersetzen… Es scheint da tatsächlich so eine Leerstelle zu geben….
    – das mit den Bewertungen und den Gefühlen ist tatsächlich nicht eindeutig formuliert in dem Buch. Sollte es irgendwann eine weitere Auflage geben, wird das unmissverständlich geschrieben! :-)))))

    Was mich wirklich freut: dass das Buch zum Nachdenken anregt. Das war meine Intention und darüber freue ich mich riesig!
    Bin sehr gespannt auf die Rezi zum „hungrigen Krokodil“ und wünsche dir schon jetzt spannende und berührende Lesestunden!

    Liebe Grüße an alle in diesem tollen Blog
    Sandra Brökel

    1. Liebe Sandra,

      danke für Deinen Kommentar.
      Es ist eine Ehre für mich, die Autorin selbst in meinem blog begrüßen zu dürfen!💐
      Ich freue mich sehr darüber, dass Du explizit auf die zwei Punkte eingegangen bist, an denen ich hängen geblieben bin.

      Ich kann das mit der Leerstelle nachvollziehen und finde es sehr wertvoll, dass Du Deine Gefühle an der Stelle so offen äußerst. Danke.

      Ich freue mich sehr auf das „hungrige Krokodil“. Nächste Woche geht’s los.

      Herzliche Grüße,
      Susanne

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