Der zweite Weltkrieg, der eiserne Vorhang, der kalte Krieg und der Prager Frühling… Geschichtliche und politische Themen begegnen einem in diesem Buch, das auf einer wahren Geschichte basiert.
Mit Beginn des ersten Kapitels kehren wir zurück in den Sommer 1970 und befinden uns in Prag.
Es ist der letzte Tag im „alten Leben“ des 50-jährigen renommierten Chefarztes Pavel Vodák im Institut für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Er nimmt Abschied und lässt seinen Erinnerungen und Gedanken freien Lauf. Er ist voller Vorfreude und gleichzeitig skeptisch und besorgt.Er kann die politischen Gegebenheiten nicht akzeptieren, er will sich nicht ins System pressen lassen und er will seine Meinung äußern dürfen, wodurch er schon oft angeeckt ist. Inzwischen steht er deshalb unter Beobachtung und unterliegt einem Reiseverbot ins Ausland, wodurch er nicht nur persönliche Freiheiten sondern auch berufliche Austauschmöglichkeiten verliert. Das Risiko einer Verhaftung steigt täglich.
Er will sich und seiner Familie ein Leben in Freiheit ermöglichen. Er möchte nicht, dass seine kluge und lebhafte zwölfjährige Tochter Pavlina aufgrund von staatlichen Repressalien ihr Potenzial nicht ausschöpfen kann.
Deshalb sieht er nur eine Lösung: die Flucht. Es ist ihm gelungen, vier westdeutsche Pässe zu arrangieren, die die Türöffner in die Freiheit darstellen.
Nur Pavel weiß, dass heute sein letzter Arbeitstag ist. Offiziell tritt er seinen Sommerurlaub an und fährt mit seiner Familie nach Jugoslawien.
Im weiteren Verlauf tauchen wir in Pavels Vergangenheit ein.
Der 18-jährige Abiturient Pavel schlendert 1939 um den Marktplatz seines Wohnortes Budweis herum, auf dem Panzer stehen und auf dem sich deutsche Wehrmachtssoldaten tummeln. Er braucht einige Zeit, um das Geschehen einzuordnen, ist voller widerstrebender Gefühle, verwirrt und ratlos. Es ist der Tag der Besetzung durch die Nazis – durch das lauernde, harmlos wirkende, aber hochgefährliche Krokodil. Es ist der Tag des Einmarsches von Hitler in Prag.
Dorthin schwenkt die Autorin Sandra Brökel ihre Kamera, nachdem wir uns von der Lage in Budweis ein Bild gemacht haben.Es ist nun Oktober 1939 und Pavel beginnt in der Karlsuniversität sein Medizinstudium. Es dauert nicht lange, bis auch dort die Härte des NS-Regimes zu spüren ist.Bereits am ersten Tag begegnet er dort, in der Uni, einer wunderschönen Kommilitonin, in die er sich Hals über Kopf verliebt und die später seine Gattin wird.
Und dann die erschütternde Nachricht: Alle Hochschulen und Universitäten des Protektorats Böhmen und Mähren werden geschlossen. Pavel kann erstmal nicht weiterstudieren…
Soviel zum Inhalt.
Als ich das Buch nach der Lektüre zuklappte, war ich gleichermaßen zufrieden wie traurig. Traurig, weil die kleine Pavli, Tochter von Pavel Vodák, zwischenzeitlich eine Psychologin und die Freundin der Autorin, vor nicht allzu langer Zeit verstorben ist, und zufrieden, weil mir „Das hungrige Krokodil“ erfüllte Lesestunden bescherte.
Die Stadt Prag und ihre Atmosphäre werden von Sandra Brökel so beschrieben, dass man das Gefühl hat, selbst dort zu sein und Stimmungen werden eindrücklich und spürbar vermittelt.
Ich stieß auf etliche schöne Bilder und Formulierungen:
„(Dieses einschnürende Gefühl der Enge)…frisst sich ganz langsam durch seine Eingeweide, würgt und stranguliert ihn.“ (S. 14)
„Die Intelligenz der gesamten Stadt erstickt unter einem unsichtbaren Etwas, das sich wie ein Leichentuch über die Menschen legt.“ (S. 14)
„Obwohl beide noch schweigend durch die Gänge der Universität gehen, hat Pavel das Gefühl, er mache einen Spaziergang durch den Wald, in dem einige Bäume mit weißen Ringen gekennzeichnet sind. Sie sind zum Fällen bestimmt.“ (S. 64)… natürlich symbolisieren die Bäume mit den weißen Ringen hier die Juden mit den gelben Sternen.
„Niemand kann vor dem Schatten des Gewesenen fortlaufen. Er wird stets ein leiser Begleiter sein. Die Frage ist nur, wie viel Macht ein Mensch ihm zugesteht. Wer den Schatten in den Fokus seines Bewusstseins rückt, sieht nur Dunkelheit. Wer aber um ihn weiß und ihn akzeptiert, der kann ihn hinter sich lassen und seinen Blick nach vorne, ins Licht richten.“ (S. 114)
Daneben amüsierte mich die ein oder andere humorvolle Passage, wie z. B. die, in der der Tag beschrieben wird, an dem der heranwachsende Pavel beschloss, einmal Arzt zu werden wie sein Onkel.Zum Schmunzeln waren auch die Geschichten von Frída und seiner singenden Mutter und von der Entführung des Weihnachtskarpfens.
Der Leser wird aber auch mit eindrücklichen und emotional herausfordernden Passagen konfrontiert. Die Beschreibung der grauenhaften Zustände, die im Lager Theresienstadt kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges vorgefunden wurden, sind nicht unbekannt oder neu, aber sie lassen einem den Atem stocken.
Unbedingt erwähnenswert finde ich, dass der Hauptprotagonist Pavel, bzw. sein Charakter, von Sandra Brökel wunderbar „seziert“ wird.
Wir lernen diesen besonnenen Menschenfreund mit all seinen Facetten kennen, weil wir in sein Innenleben eintauchen, dem die Autorin durch die Lektüre seiner Aufzeichnungen nahe gekommen ist. Seine Gedanken und Gefühle bleiben uns nicht fremd und es offenbart sich ein vielschichtiger und „ganz normaler“ Mensch mit all seinen Vorzügen und Fehlern.
Anerkennenswert und angenehm finde ich, dass Sandra Brökel zu keinem Zeitpunkt bewertet. Sie beschreibt und überlässt es dem Leser, sich sein eigenes Bild zu machen. Aber sie beschreibt nicht distanziert und nüchtern, sondern auf eine Art und Weise, die im Leser Reaktionen und Gefühle auslösen.
„Das hungrige Krokodil“ ist kurzweilig und unterhaltsam. Es liest sich flüssig und ist gut verständlich, informativ, lehrreich und interessant.Darüber hinaus macht der Roman Lust auf eine Städtereise nach Prag.
Zwei Aspekte möchte ich noch loswerden:Vor der Lektüre konnte ich den Begriff „Prager Frühling“ nicht so wirklich mit Leben füllen. Jetzt durfte ich ihn aus Pavels Sicht miterleben. Ich werde nicht mehr vergessen, was sich hinter diesem Begriff verbirgt.Geschichte hautnah!
Der Titel des Buches, die Metapher mit dem Krokodil, ist unglaublich gut gewählt. Die Symbolik, die dahinter steckt ist einfach wunderbar. Warum das so ist, werde ich hier aber nicht verraten, weil ich dieses Lesevergnügen nicht vorweg nehmen möchte.
„Das hungrige Krokodil“ ist ein berührendes und bewegendes Buch. Es geht unter die Haut und lässt niemanden kalt.
Ich empfehle es gerne weiter!
Tipp: Es lohnt sich, nach der Lektüre dieses Romans „Pavel und ich: eine Spurensuche“ zu lesen, weil man dadurch interessante Hintergrund- und Zusatzinformationen erhält.
5/5⭐️
Das Buch hat mir sehr gut gefallen kann es nur weiterempfehlen
Wow! Schon fertig gelesen? Ich freue mich, dass es Dir gefallen hat!!!💐
Ganz herzlichen Dank für diese differenzierte Rezension!
LG Sandra
Liebe Sandra,
Du bedankst Dich bei mir???
Hättest Du dieses unbedingt lesenswerte Werk nicht geschrieben, dann hätte ich es ja nicht lesen und rezensieren können.
Ich freue mich sehr über deine Rückmeldung und hoffe, dass du immer mal wieder meinen Blog besuchst und Kommentare hinterlässt.
Herzliche Grüße,
Susanne
Klar! Ich stöbere gerne hier durch…
Liebe Grüße und ein schönes Wochenende!!
Sandra