Munro, Alice: Liebes Leben

2012 ist diese Sammlung von Kurzgeschichten erstmals erschienen.
Ein Jahr später wurde die 1931 geborene kanadische Schriftstellerin Alice Munro, die fast ausschließlich Kurzgeschichten schrieb, mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.

In diesem Band überrascht sie mit einer Besonderheit:
Die letzten vier Geschichten überschreibt sie mit dem Titel „Finale“.
Es sind vier annähernd autobiographische Geschichten, in denen sie Einblicke in ihre Kindheit und ihr Aufwachsen gewährt.

Alice Munro beobachtet präzise, beschreibt detailliert und erklärt, bewertet oder beurteilt nichts. Unerschrocken, unverblümt und mit großer Ruhe und Gelassenheit präsentiert sie ihre Erzählungen und einen Teil ihrer Geschichte.
Dem Leser wird selbst überlassen, wie er die mit psychologischem Feingefühl geschriebenen Erzählungen interpretiert.
Manchmal sind Ende bzw. Fortgang der Geschichte klar, oft darf bzw. muss der Leser seine eigene Phantasie bemühen, um sich das weitere Geschehen auszumalen.

Viele verschiedene Themen werden aufgegriffen – den Leser erwartet Abwechslung, wobei die Erzählweise unaufgeregt ist, Grundton und Thematik ernst sind und viel Trauriges oder Entrüstendes verhandelt wird.

Eine Lehrerin, die von ihrem Chef zunächst umgarnt wird, wird am Tag ihrer Hochzeit plötzlich sitzengelassen.
Eine hinkende Frau wird getäuscht, finanziell ausgebeutet und vor den Kopf gestoßen.
Frauen, die ausbrechen und ihr Glück suchen.
Frauen, die von Schuldgefühlen gequält werden.
Männer und Frauen, die missbraucht wurden.
Frauen, die „erwachen“ und Abhängigkeit sowie Anpassung und Unterwerfung hinter sich lassen wollen.
Themen wie Demenz, Krebs und Selbstwert spielen eine Rolle und immer wieder wird der Leser mit dem Zeitgeist um den zweiten Weltkrieg herum konfrontiert.
Bigotterie und Emanzipation tauchen dabei thematisch immer wieder auf.

Alice Munro schafft es in kürzester Zeit, den Leser vollständig in ein fremdes Leben eintauchen, es verfolgen und dann, nach einer Vollbremsung, wieder daraus aufzutauchen zu lassen.
Währenddessen erwachen Menschen, Orte und Situationen zum Leben… man wird Teil davon.

Für mich waren die Enden mancher Erzählungen manchmal problematisch und unbefriedigend. Das war der Fall, wenn ich das Gefühl hatte, völlig im Regen stehen gelassen zu werden.
Ich konnte in diesen Fällen mit dem jeweiligen Schluss gar nichts anfangen, wobei ich nicht grundsätzlich sagen kann, dass ich offene Enden nicht mag. Aber wenn diese Offenheit am Schluss mit
Unverständnis und Ratlosigkeit meinerseits zusammentrifft, dann steige ich aus.

Die erste Geschichte hat mich völlig enttäuscht, weil ich so gar nicht verstand, was sie mir sagen will, so dass die Lust am Weiterlesen enorm gedämpft wurde.
Aber es hat sich sehr gelohnt, die Lektüre fortzusetzen.
Mit wenigen Erzählungen konnte ich aus o. g. Gründen kaum etwas anfangen.
Die meisten Erzählungen gefielen mir richtig gut und zwei fand ich aufgrund ihrer psychologischen und psychodynamischen Komponente bravourös.

Insgesamt halte ich die Kurzgeschichtensammlung für absolut lesenswert.

4/5⭐️

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