Zelter, Joachim: Die Verabschiebung

Schon mal vorab:

LESEN, LESEN, LESEN!

Die Flüchtlingskrise. Die Coronakrise.

„Johannes dachte an das englische Wort coronation. Die Krönung von alldem. All das, was bereits geschehen war, und jetzt auch noch Corona. Die Krönung allen Unglücks.“ (S. 146)

Mit Beginn der Lektüre beobachten wir Johannes, der in ein Flugzeug der Pakistan International Airlines einsteigt.

Das Ziel: Islamabad.

Alle, Personal wie Fluggäste, tragen einen Mund-Nasen-Schutz.

Eigentlich hat er sich geschworen, nie mehr zu fliegen, aber dank Tavor, einem Benzodiazepin mit angstlösender und muskelentspannender Wirkung sowie Vomex, einem Medikament gegen Übelkeit, konnte er sich schließlich trotz Flugangst doch überwinden, den Jumbojet zu besteigen.

Beim Start erinnert er sich an seine Kindheit, in der er mit seiner Familie aufgrund von Beförderungen seines Vaters häufig umziehen musste, an die unzähligen, oft wochenlangen Klinikaufenthalte der Mutter und vor allem und besonders intensiv an seine tierliebe Schwester Julia, die gefühlt nicht mehr von der Seite ihrer Mutter wich, während Johannes sich in seine Hausaufgaben und ins Lernen stürzte und eine Form von Ruhe und Beständigkeit in der Schule fand. Er selbst erlangte dadurch eine Art Halt, während Julia ihren zunehmend verlor.

Während Johannes nach außen hin als leuchtendes Beispiel dastand, weil er seinen beruflichen Werdegang bis hin zu einer Stelle an der Universität bravourös meisterte, kamen von Julia, die Germanistik und Philosophie studierte und oft im Nirwana verschwand, phasenweise geballt Hilferufe.

Dann lernte Julia den jüngeren, hinreißenden und entwaffnenden Faizan kennen, der aus Pakistan stammte und 2014 in Deutschland einen Asylantrag gestellt hatte. Er wurde ihr Freund und als solcher im Kreis der Familie aufgenommen.

Höchst amüsiert und zustimmend las ich die Passage, in der Faizan Maultaschen, Rostbraten und Spätzle als nichtssagend und fad empfindet und die Familie mit pakistanischen Gerichten für eine neue gewürzbasierte und geschmacksintensivere Küche zu begeistern versucht.

Ich als begeisterte Anhängerin von Yotam Ottolenghi und Tanja Grandits kann das so gut nachvollziehen! Ich bin als Schwäbin den genannten Gerichten gegenüber zwar durchaus nicht abgeneigt, koche und esse sie gerne, aber Gewürze geben den Mahlzeiten erst Pfiff und machen sie interessant. Und wenn man einmal seine Geschmacksknospen in diese Richtung gelenkt hat, dann gibt es kein Zurück!

…aber trotzdem zurück zum Buch 😉

Die Liebe von Julia, die inzwischen in einer eigenen Wohnung lebt und Faizan, der ein Mehrbettzimmer in einer Flüchtlingsunterkunft bewohnt, wird von der Furcht vor Abschiebung überschattet, denn Pakistan „gelte de facto als sicherer Herkunftsstaat.“ (S. 25)

„Er war in diesem Land (wenn überhaupt) nur vorübergehend geduldet. Bei der Landesaufnahmestelle hatte er einen Asylantrag gestellt, unter den denkbar schlechtesten Vorzeichen. Das war der Haken. Dass er aus Pakistan kam und nicht aus einem anderen Land, einem Kriegs- oder Bürgerkriegsland, wie etwa Syrien. Vor der Anhörung in der Landesaufnahmestelle hatte er panische Angst, wohl wissend, dass man seinen Asylantrag wahrscheinlich ablehnen würde, und dies aus zahllosen Gründen, deren Logik er zum größten Teil nicht einmal verstand…“ (S. 22f.)

Jetzt muss ein Anwalt gefunden werden. Ein Fachmann, der auf Asylfragen spezialisiert ist. Das wird teuer.

Ob er dem Cricketfan Faizan, der schon bald einen Job in einem Dönerrestaurant findet, wohl helfen kann?

Faizan wird aufgefordert, zu einer persönlichen Anhörung zu erscheinen. Ein Termin, über den die wildesten und verunsicherndsten Gerüchte kursieren. Ein Termin, in dem über Bleiben oder Gehen entschieden wird…

Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit: Das sich liebende Paar könnte heiraten…

Johannes erzählt letztlich die Geschichte seiner Schwester Julia und ihres Geliebten Faizan.

Man kann sich die Geschehnisse und Begebenheiten spielend leicht vorstellen und sich wunderbar in die Protagonisten Faizan und Julia hineinversetzen.

Faizans Ängste sind so nachvollziehbar, seine Panikattacken so verständlich.

Julias Ambivalenz, Verzweiflung, Wut und Angst vor Selbstverlust werden wunderbar beschrieben.

Bereits nach wenigen Seiten war ich mittendrin in der Geschichte und begeistert von Thematik, Plot und Sprache.

Meine Neugierde war geweckt und ich war sehr gespannt wie es weitergehen würde.

Der 1962 in Freiburg/Breisgau geborene Joachim Zelter ist ein genauer Beobachter und begnadeter Erzähler. Er hat ein Gespür für psychologische Vorgänge und für Sprache und spielt mit Wörtern, Ton und Tempo.

Er ist ein Wortakrobat, dem man die Freude am Spiel mit den Wörtern anmerkt.

Diese Wortspiele regen zum Innehalten, Mit- und Nachdenken an, sie faszinieren und es macht Spaß, ihnen zu folgen.

Ein Beispiel möchte ich zitieren:

„Eine immer unwirklicher werdende Wirklichkeit und wirklicher werdende Unwirklichkeit.“ (S. 145)

Der Autor erzählt mitreißend, flott und lebendig. Vor allem gegen Ende wirkt die anschaulich, eindringlich und eindrücklich erzählte Geschichte über Julia und Faizan oft atemlos, wodurch man hautnah Verzweiflung und Dringlichkeit spürt. Mit stakkatoartigen kurzen Sätzen, die wie Paukenschläge oder bulimische Brechattacken wirken, verleiht er seinem Text Intensität und Nachdruck.

Ich flog in kürzester Zeit durch die Seiten, in denen von Menschlichem und Unmenschlichem, von Recht und Unrecht, von Sinn und Unsinn, von Bleiben und Gehen die Rede ist.

Hätte ich mehr als fünf Sterne zu vergeben, ich würde es tun!

„Die Verabschiebung“ ist eine bewegende, berührende, faszinierende und außergewöhnliche literarische Perle mit überraschenden Entwicklungen und einem nicht vorhersehbaren Ende.

Darüber hinaus ist das nur 168 Seiten umfassende Werk in Halbleinen und mit Lesebändchen ein Hingucker im Regal.

5/5 ⭐️

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