Schubert, Helga: Vom Aufstehen

Dieser Erzählungsband von Helga Schubert, die 2020 mit dem Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde, enthält 29 sehr persönliche Erzählungen, die ihr Leben und ihre Sichtweise aufs Leben fokussieren und fast ein ganzes Jahrhundert beleuchten.

Er ist trotz aller privaten Details nicht als Autobiografie zu verstehen, weil neben den wahren Episoden ganz entscheidende Bereiche, z. B. ihre eigene Nachkommenschaft, ausgeklammert sind.

Die 80-jährige Helga Schubert, die sich als „Kriegskind“, „Flüchtlingskind“ und „Kind der deutschen Teilung“ bezeichnet, jahrelang von der Stasi observiert wurde und fast 50 Jahre alt war, als sie erstmals frei wählen durfte, präsentiert uns ruhig, unaufgeregt und gelassen ausgewählte Erinnerungen aus ihrem außergewöhnlichen und bewegten Leben.

„Vom Aufstehen“ ist ein Sammelsurium aus persönlichen Erinnerungen und Gedanken, die keiner Chronologie bedürfen und politische sowie persönliche Themen ansprechen, die für Frau Schuberts bisherigen Lebensweg und ihre Entwicklung eine Bedeutung hatten.

Sie ist eine Frau, die es ihrer kalterherzigen lieblosen und barschen Mutter, die uralt wurde nicht recht machen konnte, deren Vater 1941, ca. zwei Jahre nach ihrer Geburt, im zweiten Weltkrieg vor Moskau fiel, die Halt und Geborgenheit bei ihrer Großmutter und im Glauben fand und die sich im hohen Alter um ihren todkranken Mann im Nebenzimmer kümmerte.

Sie musste sich damit arrangieren, dass ihre Mutter ihr tiefgründige emotionale Verletzungen zufügte und fand Entlastung in der Aussage einer Theologin, dass man seine Eltern nicht lieben müsse.

Die 1940 geborene Helga Schubert äußert Kritik am DDR-Regime und erinnert sich daran, dass im DDR-Alltag nichts selbstverständlich war, jeder kontrolliert und alles reglementiert wurde.

Der Band versammelt überwiegend sehr kurze, nur selten mehrseitige Texte, die in ruhigem, überwiegend melancholischem Ton und in angenehmer Sprache von Geschehnissen und Begebenheiten aus dem Leben der Schriftstellerin erzählen.
Sprachwitz und Ironie fehlen dabei nicht und kritische Sätze wie „…und dass ich zur Belohnung für mein Wohlverhalten Lesereisen im Westen unternehmen durfte, ein ungeheures Privileg.“ (S. 88), strotzen vor Sarkasmus.
Zynismus und trockener Humor scheinen Frau Schubert nicht fremd zu sein.

Die Texte mit persönlichem Inhalt sind meist leicht lesbar und gut verständlich, wenngleich manches verschlüsselt erscheint

Daneben gibt es viele Texte die sich auf historische und politische Begebenheiten beziehen.
Da ist es hilfreich, wenn man sich mit der deutsch-deutschen Geschichte befasst hat, weil sonst manche Anspielungen verloren gehen oder Andeutungen ins Leere laufen. So z.B. die Erschießung des RAF-Terroristen Wolfgang Grams in Bad Kleinen.

Dass mir manche Erzählungen besser als andere gefielen liegt in der Natur der Dinge und unterm Strich zählt ja das Gesamtpaket.

Geschichten, in denen Lebenserinnerungen stecken und Anekdoten aus ihrer privaten Biografie berührten mich mehr und gefielen mir persönlich besser als Geschichten mit politischen Inhalten. Sie strahlten für mich eine große Ruhe und Poesie aus.
Das ist aber natürlich reine Geschmackssache.

Mit einigen wenigen konnte ich nichts anfangen. Ich verstand deren tiefere Bedeutung oder hintergründige Symbolik nicht.

Manche Geschichten waren, wie gesagt, sehr komplex und manche Sätze waren sehr lang, was das lesen mühsam machte und viel Aufmerksamkeit erforderte, so dass ich nicht selten noch mal von vorn zum Lesen anfangen musste.

Die herausragende letzte und titelgebende Geschichte ist ein Höhepunkt. Sie rundet die Sammlung von Erinnerungen ab, stellt eine Art Essenz der vorhergehenden Texte dar und bildet damit einen wunderbaren Abschluss ihres Werkes.
Mit dieser Geschichte hat die Autorin den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen.

„Vom Aufstehen“ ist ein sprachlich und inhaltlich höchst interessantes und tief beeindruckendes Buch mit allerlei tiefgründigen und weisen Gedanken und Überlegungen, die man festhalten möchte.

Die Autorin spricht zahlreiche interessante Themen an.
Zum Beispiel die Bedeutung von Wahlmöglichkeiten, auch wenn man sie nicht ergreift. Aber wenn man sie hat, dann fühlt man sich frei.
Zum Beispiel die Bedeutsamkeit, auch das vermeintlich selbstverständliche immer wieder zu beachten und zu schätzen.
Denn vieles ist und war für Viele niemals selbstverständlich.
Ihre Gedanken beziehen sich meist konkret auf die DDR, können aber unschwer verallgemeinert werden und das macht das Buch besonders wertvoll.

Eine Passage, die mich ganz besonders beeindruckt hat, möchte ich gern zitieren.
Genauso möchte ich das auch einmal empfinden und sehen, wenn ich „ganz alt bin“:
„Ich komme beim Älterwerden auch langsam aus der Zukunft an, ich nehme Abschied von den Aussichtstürmen, die ich nie besteigen, den warmen Meeren, in denen ich nie baden werde…
Denn ich habe mir in meinem langen Leben alles einverleibt, was ich wollte an Liebe, Wärme, Bildern, Erinnerungen, Fantasien, Sonaten.
Es ist alles in diesem Moment in mir. Und wenn ich ganz alt bin, vielleicht gelähmt und vielleicht blind, und vielleicht sehr hilfsbedürftig, dann wird das alles auch noch immer in mir sein. Das ist nämlich mein Schatz. Mein unveräußerlicher. Ich habe wie jeder Mensch meinen Schatz in mir vergraben.“ (S. 170)

„Vom Aufstehen“ ist kein durch und durch unterhaltsames oder besonders vergnügliches Buch, in dem man schwelgen kann und durch das man fliegt.

Die Lektüre ist phasenweise mühsam und manches konnte mich emotional nicht wirklich berühren oder gar fesseln.

Die literarische Qualität und das hohe erzählerische Niveau kann man dem Werk aber keinesfalls absprechen.
Frau Schubert ist eine sprachgewandte und tiefgründige Autorin. Jedes Wort scheint wohl überlegt zu sein.

4/5⭐️

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