Mit Aufklappen des Buches befinden wir uns im Herbst 1942 in der belgischen Kleinstadt Mouscron, die nahe an der Grenze zu Frankreich liegt.
Ein 17-jähriger belgischer Jude, der mit gefälschtem Pass unter dem Namen Josef Pels auf der Flucht in die Schweiz ist, betritt eine Gaststätte.
In Wahrheit handelt es sich um Noah Klieger, den jüdischen Jungen mit dem außergewöhnlichen Gedächtnis, dessen Vater sich im belgischen Widerstand engagiert.
Mit seiner hervorragenden Merkfähigkeit, seinem arischen Aussehen und seinem Wagemut konnte Noah schon vielen Juden helfen.
Er verteilte gestohlene Lebensmittelmarken an Juden, deren Adressen er zuvor auswendig gelernt hat und verhalf vielen jüdischen Kindern zur Flucht, indem er sie nach Mouscron brachte, wo er sie Schmugglern übergab.
Tja, und nun sitzt er also wieder in der Wirtschaft in Mouscron. Dieses Mal will er selbst das Land verlassen. Aber die Gestapo erwischt ihn und er landet schließlich in einem Sammellager in Mechelen, Belgien.
Von dort aus wird er in ein Lager in Oberschlesien transportiert, in dem Josef Mengele sein Unwesen treibt: Auschwitz.
Das Buch beinhaltet Erinnerungen aus dem außergewöhnlichen Leben von Noah Klieger, der einer der letzten Zeitzeugen der Shoa war.
Er überlebte Auschwitz und war auf dem Schiff Exodus 47, das ihn und weitere ca. 4500 jüdische Holocaust-Überlebende nach Palästina hätte bringen sollen.
Es sind aber nicht nur Erinnerungen an die Zeit im Konzentrationslager, sondern vor allem auch Erinnerungen aus seinem Leben danach.
Im Frühjahr 2018 erzählte Noah seine Geschichte dem Autor Takis Würger.
Die beiden begegneten sich erstmals im Herbst 2017, als Noah in Günzburg, einer bayerischen Kleinstadt, vor Gymnasiasten über den Holocaust sprach.
Damals beschlossen die beiden Männer, Noahs Geschichte niederzuschreiben.
Um dies zu tun, reiste Takis Würger Anfang 2018 nach Israel zu Noah, wo sie sich über Monate hinweg fast täglich trafen.
Das Resultat war dieses eindrucksvolle Buch und, wie ich aus den wunderbaren, interessanten und erhellenden Nachworten, die das Werk abrunden, herauslesen konnte, darüber hinaus eine Freundschaft zwischen Noah Klieger und Takis Würger.
Leider erlebte Noah Klieger die Veröffentlichung seiner Erinnerungen nicht mit. Er verstarb Ende 2018.
Das Buch liest sich zeitweise wie ein Bericht, aber es ist trotzdem und gleichzeitig eine Geschichte, die mich packte.
Es ist eine wahre, erschütternde und rasant voranschreitende Geschichte, die Gräueltaten und Schrecken aufzeigt oder andeutet, die nicht ausgeschmückt wird und die auch nicht ausgeschmückt werden muss.
Sie ist sehr nüchtern und phasenweise fast im Telegrammstil geschrieben und gerade deshalb vermittelt sich die Dramatik besonders eindrücklich und entstehen im Leser klare Bilder und tiefe Gefühle.
Gefühle, die von Noah Klieger und Takis Würger nicht verbal ausgedrückt werden, werden IM Leser ausgelöst und hervorgerufen.
Staccatoartige kurze und knappe Sätze, Wortwiederholungen, der einfache Satzbau und die schmucklose Sprache machen den Text besonders wuchtig, eindringlich und eindrücklich.
Kein Wort zu viel, keines zu wenig. Keine Wertungen, keine Erklärungen.
Nur Erinnerungen, Anekdoten, Fakten, Andeutungen und am Ende eine lange Liste an Fragen. Es ist ein atemraubender Fragenkatalog. Wie Hammerschläge folgt eine Frage nach der anderen, wodurch die Unfassbarkeit der Geschehnisse und Noahs Erschütterung, Unverständnis, Wut, Trauer und Ratlosigkeit ersichtlich sind.
„Noah – von einem, der überlebte“, ist kein Buch, das unterhalten oder spannenden Zeitvertreib bieten möchte.
Es ist ein Mahnmal zum Gedenken, es ist ein Text gegen das Vergessen und zum Verarbeiten und es ist ein Werk, mit dem einem Menschen Respekt und Wertschätzung entgegengebracht wird, der trotz seiner unfassbar großen Not noch den Mut hatte, Anderen gegenüber solidarisch zu sein, sie zu unterstützen und ihnen zu helfen.
Für mich persönlich war es darüber hinaus ein Buch, in dem ich auch Neues erfuhr.
Zum Beispiel wusste ich vor der Lektüre nicht, dass Überlebende der Shoah „Displaced persons“ genannt wurden und dass sie nach dem Krieg in Lagern, z. B. Bergen-Belsen lebten, die sich zum Teil an denselben Orten wie vorher die Konzentrationslager befanden.
Ich wusste auch nichts von der Überfahrt der Exodus 47, einem Schiff, das ca. 4500 jüdische Flüchtlinge an Bord hatte. Menschen, die nach dem Krieg nach Palästina wollten, dort aber nicht ankamen, weil britische Soldaten dies mit Gewalt verhindert haben.
Das nur 184 Seiten lange Buch ist angefüllt mit Fakten, Anekdoten und Erinnerungen. Nachdem man es zugeklappt hat, ist man randvoll.
Man hat dadurch eine klitzekleine Ahnung davon, wie randvoll Noah sein musste mit alldem, was in ihm vorging und was er erlebt hat.
Der Leser muss das Gelesene erst verarbeiten und Noah war zeitlebens damit beschäftigt, seine schrecklichen Erinnerungen zu verarbeiten.
Aufgrund seiner Kürze und Knappheit und wegen der fehlenden Erklärungen ist „Noah – von einem, der überlebte“ meines Erachtens ein Buch, das von Vorwissen lebt.
Ein junger Mensch, der sich zum ersten Mal mit dem Thema Holocaust beschäftigt, wird möglicherweise sehr verwirrt und ratlos zurückbleiben, weil er noch auf nichts zurückgreifen und somit das Gelesene nicht einordnen kann.
Aber nicht jedes Buch muss das gesamte Leserspektrum ansprechen.
Jedes Buch hat seine Leserschaft und jedes Buch hat seine Zeit.
Ich bin froh, dass ich mir die Zeit für diese außergewöhnliche und beeindruckende mosaikartig präsentierte Lebensgeschichte und für dieses lesenswerte Buch genommen habe.
Noah hat sich erinnert und erzählt, Takis Würger hat diese Erinnerungen und Erzählungen für uns alle niedergeschrieben und festgehalten.
Wie gut, dass Noahs Geschichte auf diese Weise bewahrt wird.
5/5⭐️
Vielen Dank für den Tipp für dieses unglaublich ergreifende Buch!
Sehr gerne! Freut mich, dass Du was damit anfangen konntest. Es polarisiert ja doch ziemlich. Ich habe es in einer Leserunde gelesen und manchen war es zu nüchtern und fragmentarisch.
Liebe Grüße,
Susanne💐