Eliot, George: Middlemarch

Es handelt sich bei dem klar strukturierten und detailliert komponierten Werk der Autorin Marian Evans alias George Eliot von 1871 um einen dicken Schmöker von ca. 1100 Seiten.

Der Roman ist ein Gesellschaftsportrait, das durch eine raffinierte und unterhaltsame Verzahnung einzelner Schicksale entsteht.

Im Verlauf lernen wir das fiktive englische Städtchen Middlemarch und einige seiner Bewohner kennen.

Die Protagonisten mit ihren unterschiedlichen Temperamenten und Charakteren führen uns die Welt der in der englischen Provinz lebenden gehobeneren Gesellschaftsklassen (Landadel und Mittelklasse/Bürgertum) der ersten Hälfte des 19. Jh vor Augen und die weiblichen Figuren demonstrieren uns in ihrer Unterschiedlichkeit die verschiedenen Facetten der Weiblichkeit und deren Bedeutung und Ansehen in der damaligen Zeit.

Die Unterschicht spielt nur indirekt und am Rande eine Rolle, indem sie manchmal in Nebensätzen Erwähnung findet.

Im Zentrum stehen Dorothea und Lydgate. Beide müssen letztendlich Abstriche von ihren ursprünglich hochgesteckten Zielen machen.
Während die begeisterungsfähige, aufopferungsvolle und ums Wohl der Menschheit besorgte Dorothea letztendlich ihr Lebensglück findet, gelingt es dem leidenschaftlichen, begabten und am Fortschritt der Medizin interessierten jungen Arzt Lydgate, sich mit Alternativen zu arrangieren und trotz etlicher Widrigkeiten ein zufriedenes Leben zu führen.

Wir begleiten nicht nur Dorothea, die einen älteren und introvertierten Pastor und Gelehrten heiratet, um die eigene intellektuelle Erfüllung zu finden und Lydgate, der sich in die schöne, elegante und selbstbezogene Rosamond verliebt, sondern auch Celia, Dorotheas bodenständige, pragmatische und unbeschwert-fröhliche Schwester, die das typische Frauenbild der viktorianischen Zeit repräsentiert und Sir James ehelicht, der ursprünglich Interesse an Dorothea hatte.

Daneben lernen wir noch zahlreiche weitere Protagonisten gut kennen.

Da sind z. B. Mr. Casaubon, der wortkarge Ehemann von Dorothea und Mr. Featherstone, der grimmige und gehässige Onkel der Geschwister Rosamond und Fred, die beide über ihren Tod hinaus das Leben anderer Menschen beeinflussen und kontrollieren wollen.

Da ist die Familie Garth, die ein Beispiel für liebevollen Umgang, Loyalität und Zusammenhalt gibt.

Da sind Mary Garth, die klare Prinzipien vertretende und zutiefst aufrichtige Hausangestellte von Featherstone und ihr moralisch einwandfreier Vater Caleb Garth, der dem jugendlich leichtsinnigen aber ehrlichen Fred zu einer Chance verhilft, den rechten Weg zu finden und seine Tochter Mary zu erobern.

Und da ist Will Ladislaw, ein redegewandter und künstlerisch veranlagter integrer junger Mann, der „vom Schicksal“ ungerecht behandelt wurde, aber letztendlich sein Glück in der Liebe findet.

Diese Auflistung bedeutender Protagonisten könnte noch gut eine Weile fortgesetzt werden, aber um keine allzu große Verwirrung zu erzeugen, belasse ich es erst einmal dabei.

Erwähnenswert finde ich, dass wir in das Leben und in die Gedanken- und Gefühlswelt vieler einzelner Personen tief eintauchen und trotzdem oder gerade deshalb einen detaillierten Einblick ins große Ganze bekommen: in die damalige englische Gesellschaft des beginnenden 19. Jh, die Neues und Fremdes ablehnte.
Dass der Autorin diese Zweigleisigkeit gelingt, zeigt ihr großes Talent.

Es geht um Versuchungen, denen getrotzt wird oder denen nicht widerstanden werden kann.

Es geht um enge gesellschaftliche Verhältnisse voller Normen, Konventionen, traditionellen Beschränkungen und moralischen Vorstellungen und der Leser wird mit fragwürdigen Frauenbildern, konservativen Vorstellungen, und zementierten, schwer zu durchbrechenden sozialen Rollenzuschreibungen konfrontiert.

Aber auch Zuwiderhandlungen gegen die Regeln der Gesellschaft, fortschrittliche Ideen und die Bedeutung und Macht der Gerüchteküche spielen eine zentrale Rolle.

Der Leser bekommt darüber hinaus einen Einblick in die politischen und gesellschaftlichen Unruhen der Jahre, die auf die große Parlamentsreform im Jahre 1832, in dem der Roman endet, zusteuern und ist somit zeitlich gesehen in einer Phase des Umbruchs angesiedelt.

Die damalige Selbstverständlichkeit von Klassenunterschieden sowie die damalige Bedeutung von Geld und Vermögen wird uns vor Augen geführt und wir bekommen einen Einblick in den damaligen Status der Ärzte und Stand der Medizin.

George Eliot erzählt mit einer schönen, für den heutigen Leser natürlich etwas altertümlichen , präzisen und bildhaften Sprache. Sie verwendet wunderschöne Formulierungen, treffende Vergleiche und Metaphern und überrascht und erfreut den Leser immer wieder mit ironischen, witzigen oder klugen Bemerkungen.

Ich genoß Sprache und Ausdrucksweise und las deshalb langsam, auch wenn dadurch die Lektüre dieses dicken Wälzers noch länger gedauert hat.

Der Roman ist sehr abwechslungsreich aufgebaut und schon deshalb nie langweilig.
Das liegt nicht nur an Struktur und Gliederung in einzelne Bücher und Kapitel oder daran, dass immer wieder andere Personen beleuchtet werden, sondern es liegt auch am Perspektivenwechsel. Immer wieder klinkt sich der Erzähler/die Erzählerin mit seinem/ihrem eigenen Ich ein, um vor einseitigen Sichtweisen und voreiligen Schlüssen zu warnen bzw. um alternative Interpretationsmöglichkeiten anzubieten.

Es ist faszinierend, dass und wie die Autorin es schafft, Gefühle beim Leser auszulösen: Mitgefühl, Rührung, Ärger, Erstaunen, Empörung…Die ganze Palette.

Ich bin beeindruckt, wie die Autorin die einzelnen Fäden und Stränge nach und nach zusammen laufen lässt.
Die zahlreichen Figuren und Schicksale werden gekonnt und schlüssig miteinander verbunden. Eliot hat diesen Roman wirklich gekonnt komponiert.

Bei allem Lob muss ich einräumen, dass der Roman wegen seiner altertümlichen Sprache und wegen den komplexen und komplizierten Satzstrukturen stellenweise nicht einfach zu lesen war. Aber das spielte für mich eine untergeordnete Rolle. Manches musste, bzw. wollte ich mehrmals und alles ohnehin hellwach und konzentriert lesen, damit mir nichts entging.
Aber es lohnte sich!

Es gibt m. E. auch Botschaften, die uns die Autorin en passant und keinesfalls mit erhobenem Zeigefinger vermittelt:
-Jegliches Tun hat Konsequenzen und es sind nicht nur die großen Taten von Berühmtheiten, die Veränderungen bewirken, sondern auch die vermeintlich kleinen Taten von unscheinbaren oder unbekannten Personen. Und zwar im positiven wie im negativen Sinn.
-Es ist wichtig, für andere Sichtweisen offen zu sein. Zu schnell bewegt man sich auf seinem eigenen Gedankenweg, schiebt in Schubladen, zieht voreilige Schlüsse und blendet andere Perspektiven oder Alternativen aus, was die Gefahr einer„moralischen Dummheit“ nach sich zieht.

Nach dem letzten Zuklappen des Romans war ich begeistert und froh.
Begeistert über den Inhalt und froh, diesen dicken Wälzer bewältigt zu haben.

Aber ich spürte auch eine gewisse Wehmut darüber, Middlemarch und seine Bewohner verlassen zu müssen. Denn ich war gern dort.

Absolut lesenswert!

5/5⭐️

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