Jergović, Miljenko: Ruth Tannenbaum

Es geht in dem 448 Seiten langen Roman, der in Zagreb und am Anfang des
20.Jh spielt um das jüdische Mädchen Ruth Tannenbaum und ihre Familie.
Ruth wird aufgrund ihrer riesengroßen Augen zu einer berühmten und gefeierten kroatischen Kinderschauspielerin. Sie wird zur sog. „kroatischen Shirley Temple“.
Das verändert nicht nur ihr eigenes Leben, sondern natürlich auch das ihrer Eltern.

Schon vor Hitlers Balkanfeldzug sind antisemitische Tendenzen in der Stadt vorhanden und spürbar, die sich schließlich zuspitzen, für viele Zagreber Juden tödlich enden und auch die Tannenbaums nicht schonen.

Der Autor Miljenko Jergović wollte mit dem Roman der jugoslawischen Kinderschauspielerin Lea Dragica Deutsch (1927-1943), die 1943 16-jährig vom Naziregime ermordet und deren Schicksal totgeschwiegen wurde, einen kleinen Gedenkstein setzen, wobei er Personen und Handlung bewusst stark fiktionalisiert hat.

Ich mochte den äußerst detaillierten und phasenweise packenden Roman, weil ich mich anhand der Lektüre aber auch durch weitere Recherchen mit geschichtlichen Aspekten Jugoslawiens beziehungsweise seiner Nachfolgestaaten beschäftigt habe.
Der Roman verschafft außerdem einen guten Einblick in die Bräuche und den Alltag der jüdischen Bevölkerung im Königreich Jugoslawien Anfang des 20. Jahrhunderts und es wird eine interessante Geschichte erzählt.

Trotz aller positiver Aspekte, die ganz klar vorhanden sind, bleibe ich ambivalent zurück, da mir einiges zu Schaffen machte.
Die Lektüre war für mich stellenweise etwas mühsam, weil sehr viele verschiedene Personen und ihre für mein Ohr natürlich fremd und kompliziert klingenden kroatischen Namen auftauchten und weil der Autor nicht selten vom Hölzchen aufs Stöckchen kam.
Diese Ausschweifungen, die sich immer an Gedanken von Personen oder an Ereignissen orientierten, waren durchweg schlüssig und nachvollziehbar und meistens auch sehr interessant, aber all das führte bei mir zur zeitweiligen „Desorientiertheit“ und Verwirrung, so dass ich immer wieder zurückblättern und nachlesen musste.

Ich musste hellwach und sehr konzentriert lesen, um den Faden nicht zu verlieren und den Spaß an der Lektüre zu behalten.
Es ist kein Buch für kurz vor dem Einschlafen 😉

Außerdem ist es ein eher beschreibender Roman. Die Personen und ihr Innenleben kamen mir nicht wirklich nahe. Sie blieben, was ihre Gedanken und Gefühle betrifft, eher blass. Aber das ist für mich nicht per se ein Nachteil des Buches, obwohl ich mich generell außerordentlich gerne und neugierig auf die Innenwelten der Protagonisten einlasse.
Die Wirkung der Personen im Roman ist schlicht der Erzählperspektive geschuldet und wohl genauso beabsichtigt.

Am Ende bleibt der Vorsatz, diesen lesenswerten Roman noch einmal zu lesen, um dieses komplexe und gleichzeitig interessante, unterhaltsame und mein Wissen erweiternde Werk besser durchdringen und behalten zu können.
Ich habe das Gefühl, dass in diesem Roman weit mehr enthalten ist, als ich beim ersten Lesen aufnehmen konnte.

3/5⭐️

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