Gleich zu Beginn: ein genial gewählter Titel: Ein verirrtes Herz und eine verwirrte Seele. Eine verbotene Liebe bringt das Seelenleben durcheinander.
Der 130 Seiten lange bzw. kurze Roman spielt im Berlin des 19. Jh. Es geht um die nicht standesgemäße Liebesbeziehung zwischen Lene Nimptsch, der aufrichtigen, natürlichen, anspruchs- und selbstlosen sowie bodenständigen Pflegetochter einer alten Waschfrau und Botho von Rienäcker, einem weich- aber gutherzigen Baron, der über seine Verhältnisse lebt und seine reiche Cousine Käthe heiraten soll, um den finanziellen Ruin der Familie abzuwenden.
Der Leser erlebt den inneren Konflikt Bothos zwischen persönlichen Wünschen einerseits und Pflicht- und Verantwortungsgefühlen andererseits sowie seinen Anpassungsbedürfnissen und Ängsten vor Ausschluss aus der gehobenen Gesellschaft und Familie mit.
Gleich zu Beginn lernen wir die geschwätzige, neugierige und aufdringliche aber gutherzig-verlässliche Frau Dörr kennen, die ihrer Nachbarin und Mieterin Frau Nimptsch ihre Gedanken über deren Pflegetochter Lene und ihrem geliebten Baron aufdrängt.
Kurz darauf verfolgen wir ein Gespräch zwischen Frau Dörr und der verliebten Lene, die bereitwillig und detailliert darüber erzählt, wie sie den Baron kennengelernt hat.
Im Verlauf erleben wir die kurze aber intensive und aufrichtige gemeinsame Zeit von Botho, der am liebsten Realität und Konventionen ausblenden würde und Lene, die sich von Anfang an keine Illusionen macht, mit.
Letztendlich heiraten beide andere Partner: Botho die reiche und oberflächliche Cousine Käthe und Lene den bigotten und tüchtigen Handwerker Gideon.
Ich bekam einen wunderbaren Einblick in Alltag, Themen und Gewohnheiten sowohl der einfachen Leute als auch der gehobenen Schicht der damaligen Zeit.
Förmlichkeit, Sittsamkeit,
Konventionen, das Gerede der Leute, Fassade, Loyalität…
Unterwirft man sich den (gesellschaftlichen, aber eben auch familiären und inneren) Zwängen oder bricht man aus? Auch heute noch ein Thema!
Ein aufschlussreiches Zitat dazu:
„… dass das Herkommen unser Tun bestimmt. Wer ihm gehorcht, kann zu Grunde gehen, aber er geht besser zu Grunde als der, der ihm widerspricht.“ (S. 73)
Die Sprache gefällt mir – es entstehen Bilder und Szenen vor dem geistigen Auge – und es macht mir Spaß, in die Welt des 19. Jh einzutauchen. Wie sie damals lebten, dachten und sprachen – das ist interessant. Die Dialoge in berlinerisch lassen das Ganze noch echter wirken, auch wenn Sprache und Dialoge bedingen, dass man etwas langsamer und konzentrierter lesen muss als üblich.
Es gibt auch Humor und Witz. Trotz der ernsten, dramatischen und aus unserer heutigen Sicht durchaus auch empörenden Grundthematik hat man immer wieder mal was zu Schmunzeln.
Zwischendurch mal ein Klassiker? „Irrungen, Wirrungen“ von Fontane kann ich empfehlen. V. a. im Fontanejahr 😉
4/5⭐️