Baldwin, James: Giovannis Zimmer

Der nur 208 Seiten lange zweite Roman Baldwins, einem begnadeten Schriftsteller und Kämpfer für Gleichberechtigung und Selbstbestimmung, erschien erstmals 1956 und spielt überwiegend im Paris der 1950er Jahre.

Baldwin beschreibt darin die damaligen Zustände bzw. Missstände und das damals vorherrschende Gesellschaftsbild ohne es zu bewerten, was eine Meisterleistung an Zurückhaltung ist, wenn man bedenkt, dass Baldwin selbst massiv unter Diskriminierung, Anfeindungen und Ausgrenzung gelitten hat.

Es geht explizit bzw. implizit um Liebesfähigkeit, sexuelle Orientierung, Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung, Geschlechterrollen, gesellschaftliche Normen, Vorurteile und Überzeugungen, befürchtete Ächtung, drohenden Absturz, Macht und Unterwerfung, Selbsthass und Frauenhass, zu Hause und Heimat.

„Vielleicht ist zu Hause gar kein Ort, sondern ein unwiderruflicher Zustand.“ Solche und ähnliche existentielle Überlegungen regen zum Reflektieren an.

In der ersten Szene treffen wir auf David.
Er steht mit einem Glas Wein am Fenster eines prächtigen Ferienhauses in einem kleinen Badeort in Südfrankreich, betrachtet sein Spiegelbild, blickt hinaus in die Abenddämmerung und lässt seinen Erinnerungen, Gedanken, Vorstellungen und Gefühlen freien Lauf.

David denkt an eine eindrückliche, einschneidende, aufwühlende, sein Leben und Erleben verändernde und erschreckende Nacht mit seinem Freund Joey als sie beide im Teenageralter waren.

Wir erfahren, dass David in San Francisco geboren wurde und in Seattle und New York bei seinem Vater und dessen Schwester Ellen aufgewachsen ist, nachdem seine Mutter in seinem sechsten Lebensjahr verstorben war.

Wir können unschwer und bald erkennen, dass es ein wenig harmonisches, wortkarges und unterkühltes Aufwachsen bei seiner Tante Ellen, einer frustrierten Frau mit einer Vorliebe für Bücher, Kino und Stricken, und seinem emotional abgestumpften Vater, einem für Alkohol und „Weibergeschichten“ anfälligen Mann, war.

Der Verlust seiner Mutter, der er in Albträumen begegnete und die die drei aus einem Foto auf dem Kaminsims heraus „beobachtete“, wurde tabuisiert und mit seinem Gefühlsleben musste er selbst irgendwie zurechtkommen: Eine Überforderung des Kindes und Heranwachsenden, die zu emotionaler Erstarrung, innerer Ambivalenz, Verwirrung und Vereinsamung führte.

Ein schlimmer Unfall führt zur endgültigen und völligen Entfremdung zwischen Vater und Sohn, zum Umzug nach Paris und zu Geldnot.

Im weiteren Verlauf lernen wir den in sich zerrissenen David besser kennen und darüber hinaus auch den amerikanischen Geschäftsmann Jaques, die gleichzeitig offene, reisefreudige und konservative Hella und den italienischen Barmann Giovanni.

David, der wohl ein Verbrechen begangen hat, unter Schuldgefühlen leidet und auf Vergebung hofft.

Jaques, den homosexuellen Bekannten, der David immer wieder Geld leiht und ihn durchschaut.

Hella, Davids Verlobte, die gerade in Spanien ist und

Giovanni, der letztlich umgebracht wurde.

Baldwin überzeugte mich mit seiner wunderschönen, bildhaften und poetischen Sprache und mit seinen beeindruckenden Metaphern und Vergleichen.

Manche Sätze und Formulierungen, einfach, aber mit Tiefgang, ließen mich innehalten und mussten mehrmals gelesen werden.
Ein WortSCHATZ im wahrsten Sinne!

Mit einer Kostprobe für eine wunderschöne Formulierung, mit der er eine rein sexuelle Affäre beschreibt, möchte ich die Lust auf dieses Buch anheizen: „Sie sind schändlich, weil keine Zuneigung in ihnen steckt und keine Freude. Als würde man einen Stecker in eine tote Dose stecken. Berührung, aber kein Kontakt. Bloße Berührung, aber kein Kontakt und kein Licht.“ (Seite 67)
Toll, oder?

Baldwin ist ein Meister im messerscharfen Beobachten und detaillierten Beschreiben von äußeren und inneren Welten. Er seziert innere Prozesse und beschreibt psychologische Vorgänge feinfühlig, treffend, gekonnt und nachvollziehbar.

Er beschreibt den Vater-Sohn Konflikt und die Bedeutsamkeit vom Einhalten der Rollen und Grenzen zwischen Vater und Sohn unfassbar gut.
Ebenso bewundernswert treffend und klar bringt er psychologische Zusammenhänge zu Papier.

Ich bin tief beeindruckt von seiner Fähigkeit, psychodynamische Zusammenhänge mit einfachen und klaren Worten zu beschreiben und mit Metaphern zu verdeutlichen. Schon auf Seite 28 begeistern mich seine Überlegungen zu Entscheidungen, Willensstärke und Selbsttäuschung.

Seine Figuren zeichnet Baldwin in all ihrer Komplexität. Sie sind alles andere als eindimensional, hölzern oder farblos.

Baldwin vermittelt eindrücklich die Atmosphäre jeder Situation. Es besteht z. B. kein Zweifel daran, dass man in Paris ist. Man sieht das Treiben in den Gassen und die Geschehnisse in den Bars vor sich, man riecht die Gerüche in der Markthalle und ist angewidert von den fauligen und stinkenden Abfällen auf der Straße.

Die zahlreichen, aber aus dem Kontext heraus verständlichen französischen Einsprengsel gefielen mir und tun ihr Übriges, um den Eindruck, mitten in der französischen Hauptstadt zu sein, zu verstärken. Sie sorgen zusätzlich zu den sehr bildhaften und detailgenauen Beobachtungen und Beschreibungen für eine sehr authentische Atmosphäre.

Mein wohl nicht überraschendes Fazit:
LESEN! Es lohnt sich.

P. S.: Es lohnt sich auch, das äußerst interessante, aufschlussreiche und erhellende Nachwort von Sasha Marianna Salzmann zu lesen.

5/5⭐️

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