Buck, Vera: Der Algorithmus der Menschlichkeit

Der Roman „Runa“ von Vera Buck hat mir bereits äußerst gut gefallen und da ich mich sehr für künstliche Intelligenz und ihre Auswirkungen auf den Einzelnen, seine zwischenmenschlichen Beziehungen und die Gesellschaft interessiere, war es für mich keine Frage, ob ich dieses Werk lesen möchte.

Science Fiction, Dystopie oder Utopie?

Sobald wir das Buch aufschlagen, sind wir im Besucherraum einer Haftanstalt und beobachten, wie Dr. Gottsein hereinkommt und sich gegenüber von Mari an einen Tisch setzt.

Mari ist diejenige, die Dr. Gottsein erst unabsichtlich umgebracht und dann wiederbelebt hat.

Jetzt, hier im Besucherraum der Haftanstalt sprudelt er wie ein Wasserfall.

Er spricht von seiner zweiten Chance durch die Auferstehung von den Toten, erzählt von vergangenen Jahren, seinem neu erwachten Interesse für Religionen und seiner Idee, nach Nigeria zu reisen, um sich dort mit dem Glauben afrikanischer Naturreligionen zu befassen.

Gottsein wurde von seiner Frau, einer Psychologin, und den Kindern verlassen. Er hat jetzt nur noch seinen Therapeuten und seinen Hund Ödipus.

Mari wird sich, das hat sie gerade versprochen, um Ödipus kümmern, solange Dr. Gottsein in Nigeria sein wird.

Der Gefängniswärter macht ihr allerdings einen Strich durch die Rechnung und Ödipus landet bei der tausendfach gepiercten Frieda, die Mari täglich im Gefängnis besucht und sie mit Hilfe eines Computerexperten aus der Untersuchungshaft holen möchte.

Ein Computerexperte? Jawohl, denn Mari ist eine Maschine, ein Roboter, ein Fembot.

Sie ist eine „beinahe echte Frau“, die keinen Stromanschluss, aber Zuckerlösung, Cola oder Gatorade braucht, Sommersprossen hat, dunkelbraunes Echthaar trägt, sich leise und fließend bewegt, sprechen und lernen kann, einen hohen IQ und Einfühlungsvermögen hat und auch sonst ziemlich menschlich ist.

Der Roman, in dem es um künstliche Intelligenz geht, beginnt, gelinde gesagt, skurril und ich war erstmal mächtig verwirrt.

Aber es dauerte nicht lange und ich war mittendrin.

Geholfen hat mir dabei Mari, die, nachdem sie selbst durch eine gründliche Untersuchung des Computerexperten völlig verwirrt war, begonnen hat, die Ereignisse gründlich zu sortieren.

Die Sortierung beginnt dabei mit Maris Geburt bzw. Ankunft im Pygmalion, dem legendären und umstrittensten Tanzclub in Berlin, der Greta Schnabel gehört. „Schnabel‘s Sexroboterclub“, so wird das Pygmalion von der Presse genannt.

Recht bald lernt Mari den einsamen Programmierer Kai, einen „totalen Nerd“, kennen, der im Rollstuhl sitzt und einfach nur Schach spielen oder reden möchte. Sie führen interessante Gespräche, in denen auch mal nachdenkenswerte Sätze fallen wie „… dabei ist Scheitern doch wie Stolpern… Das geht nur vorwärts.“ (S. 40)

Auch die bereits oben genannte Frieda, genauer gesagt, die rebellische und kluge Kellnerin Störenfrieda, hat Mari im Pygmalion kennengelernt.

Und dann bekommen Mari und die anderen Fembots eine neue Kollegin, die auch als Liebesroboter im Club von Greta Schnabel tätig sein soll.

Mim heißt die Neue. Mim ist noch ein Kind. Mari ist entrüstet!

Die Schläge, die Mari dem ersten Freier, der sich für Mim interessiert, verpasst, haben Folgen…

Mehr verrate ich zum Inhalt nicht.

Nach einem etwas schwierigen Ankommen im Buch wurde ich schnell und für lange Zeit vom überraschenden und originellen Inhalt gepackt. Ich fand so Einiges an Denkanstößen und fühlte mich prima unterhalten.

Zur Veranschaulichung des Stils möchte ich einen kurzen amüsanten und treffenden Auszug eines Gesprächs zwischen Mim und Marie zitieren:

„„Greta hat da ganz viele knöcherne Hügel“, sagte Mim „ihre Wirbel sind Berge und Täler, eine richtige Landschaft. Bei dir, Mari, ist hier alles ganz glatt.“ „Das ist, weil Greta ein Mensch ist und ich bin ein Fembot“ sagte Mari. „Die Hersteller haben mir kein Rückgrat gegeben.“ „Viele Menschen haben kein Rückgrat“, wusste Mim. „Aber Wirbel haben sie trotzdem.““

… und noch ein paar andere interessante oder denkwürdige Sätze:

„Die menschliche Normalität war nach wie vor eine schwer zu begreifende Angelegenheit. Sie ergab sich immer nur daraus, was die Mehrheit der Menschen tat, und hatte in der Folge wenig mit Logik zu tun.“ (S. 97)

„Es ist, wie es ist, aber nur, bis man es ändert.“ (S. 120)

„Trotz all des Faszinierenden, das es in der Welt zu entdecken gab, interessierten sich die Menschen doch am meisten für nackte Hintern und Biotonnen, erkannte Mari. Der Verschwendung menschlicher Lebenszeit waren wirklich keine Grenzen gesetzt. (S. 190)

Einfach nur klasse: „Nebenbei bemerkt, ein interessantes Wort, diese Ausnahmeregel“ sagte Mari. „Das drückt schon in sich die ganze Paradoxie der Sache aus! Ebenso wie Trauerfeier. Oder Gefrierbrand. Oder Frauenmannschaft.“ (S. 226)

„Linus gesteht Marie: „Ich war… Ich weiß auch nicht. Einigermaßen überfordert mit den Dingen und mit mir selbst. Als wäre mein Kopf ein Internetbrowser, in dem zu viele Fenster geöffnet waren.“ Marie wollte ihm sagen,… dass es wegen der Sache mit dem Internetbrowser sinnvoll war, die Dinge regelmäßig zu ordnen, zu sortieren und zu gewichten. Dass man ganz gut über die Runden kam, wenn man nur lernte, die unwichtigen Fenster zuschließen.“ (S. 246)

Guter Tipp, oder?

Mit Voranschreiten der Lektüre ließ meine Faszination nach.

Einiges wurde mir dann doch zu abgedreht, zu utopisch und zu flach.

Es war nach wie vor unterhaltsam, Mari, Frieda und all den anderen zu folgen, aber eben nicht mehr im gleichen Ausmaß wie vorher.

Manchmal hatte ich das Gefühl von einem erhobenen Zeigefinger im Hintergrund oder auch von allzu offensichtlichen Weisheiten.

Die Botschaft am Ende war mir zu augenscheinlich, sachlich und plump, auch wenn ich ihren Inhalt teile. Da war wenig Poetisches, wenig Verschlüsseltes… aber es war eben auch eine Botschaft von Mari und Mari ist nunmal eine Maschine und kein Mensch und darf man da Poesie erwarten?

„Der Algorithmus der Menschlichkeit“ greift das brisante Thema der künstlichen Intelligenz auf, gibt Denkanstöße, hält einem das ein oder andere Mal den Spiegel vor und ist unterhaltsam, kurzweilig und oft auch witzig, ironisch oder sarkastisch.

Trotzdem hat der Roman nicht so ganz meinen Erwartungen entsprochen.

Die sich aufdrängenden Themen und Fragen wurden überwiegend zu oberflächlich oder zu offensichtlich behandelt.

Dass ich das so empfinde hängt wahrscheinlich auch damit zusammen, dass ich schon Einiges zum Thema gelesen habe.

Für „Frischlinge“ fühlt sich das wahrscheinlich anders an;-)

Ich empfehle den Roman als kurzweilige und originelle Unterhaltungslektüre und um in Berührung mit der hochinteressanten und brisanten Thematik „künstliche Intelligenz“ zu kommen.

3/5⭐️

🇩🇪

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