Gaarder, Jostein: Ein treuer Freund

Zunächst einmal gleich auf den Punkt gebracht: Die Lektüre, in der es, ganz kurz gesagt, um den Umgang mit Einsamkeit geht, forderte mich emotional heraus.

Zunächst gelang es Jostein Gaarder in Windeseile, mich zu fesseln.
Unterhaltsam und dynamisch, zwischendurch mit tiefgründigen Gedanken versehen, die zum Innehalten und Nachdenken einluden, holte er mich mühelos und schnell ins Geschehen.

Dann kamen wiederholt Passagen, die den Lesefluss störten und in denen ich gelangweilt und sogar genervt war. Es begann mit seitenlangen Ausführungen und Klärungen über Verwandtschaftsverhältnisse und dann folgten immer wieder detaillierte Ausschweifungen und regelrechte Ergüsse über etymologische und religionsgeschichtliche Fragestellungen, sowie Ausflüge in die germanische Philologie.

Mit Fortschreiten des Romans, der zunehmend interessante und spannende Episoden bereithielt und in dem obige Passagen etwas seltener und kürzer wurden und mit zunehmendem Verständnis der Bedeutung dieser o. g. Stellen, die mich zuvor so abgehängt hatten, stellte sich dann schließlich wahre Begeisterung ein.

Und jetzt, am Ende der Lektüre muss ich sagen: „Ein treuer Freund“ ist ein wunderbarer und origineller Roman, sowohl was die Form als auch was den Inhalt anbelangt.

Der Autor beobachtet und beschreibt präzise und feinfühlig Landschaften, Geschehnisse, Situationen und psychodynamische Prozesse.
Es gibt regelrecht herzerwärmende, rührende und berührende Passagen. Jostein Gaarder lässt eine gefühlvolle und warme Atmosphäre entstehen und das, obwohl es um gewichtige Themen wie Einsamkeit und Tod geht.
Er erreicht den Leser emotional, obwohl er ihn nicht mit einem bedrückenden und melancholischen Ton konfrontiert.
Ich bin froh, dass ich am Anfang durchgehalten habe, weil mir sonst ein großes Lesevergnügen entgangen wäre.

Jetzt noch ein paar Worte zum Inhalt:
Jakop ist ein um die 60jähriger, in Norwegen lebender, inzwischen seit Jahren alleinstehender und etwas spezieller und schrulliger Gymnasiallehrer für Norwegisch und Religion. Schon seit seiner Kindheit ist er ein komischer Kauz und seltsamer Eigenbrötler, der nicht richtig dazugehört.
Er hat zwei besonders auffällige Eigenheiten:
Er besucht fremde Beerdigungen und unterhält sich regelmäßig mit seiner Handpuppe Pelle.
Im Mai 2013 sitzt Jakop in einem Hotelzimmer auf einer Ostseeinsel und beginnt, einen Brief an Agnes zu schreiben. Agnes, eine Psychotherapeutin, die er auf einer Beerdigung kennengelernt hat und gerne wiedersehen würde.
Er weiß noch nicht recht, wo und wie er beginnen soll, aber dann legt er los…

5/5⭐️

2 Gedanken zu “Gaarder, Jostein: Ein treuer Freund

  1. Liebe Susanne,
    das Buch habe ich ebenfalls rezensiert und es für sehr lesenswert empfunden.
    Meine Gedanken als Ausschnitt:
    Gaardner stellt die Überlappung von Sein und Schein bildlich dar. Auf dem „Totenschiff“ sind Lebende und Tote miteinander zugange, interagieren, als ob es keine zeitlichen Schranken mehr gäbe – und auch keine physischen: Das Schiff entschwebt, wird zum Luftschiff.
    Die Umschlaggestaltung ähnelt einem Bild von Magritte: Ein Mensch auf kleiner Erdscholle mitten im Meer, auf einem Reise-Koffer stehend vor einer Staffelei mit Landschaftsbild, in das hinein eine Leiter führt. Wer bin ich? Woher komme ich? Wo gehe ich hin? Wie in einem Brennglas verdichten sich die Probleme menschlichen Seins in diesem Eigenbrötler und Außenseiter, der auf Beerdigungen geht, um Familienleben zu erfahren, der dort Geschichten erfindet, um dazu zu gehören, der mit seiner Handpuppe Pelle auftritt, um aus sich heraustreten zu können.
    So wird das „Magritte“-Bild zum Schlüssel für die existenziellen Probleme des Menschen. Nur wenn es ihm gelingt, zwischen dem Sein und dem Vorgestellten zu vermitteln, kann er seine Insel verlassen und Teil des Ganzen werden: der Zeit, der Menschen, der Welt.

    1. Das sind äußerst interessante Gedanken. Wunderbar in Worte gefasst! Danke für Deine Rückmeldung.
      Ja, es sind existentielle Themen, die hier verhandelt werden. Sein und Schein. Wer bin ich, woher komme ich und wohin gehe ich…all das wird von den Surrealisten bildlich und traumgleich umgesetzt…

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