Kann man die Zeit zurückdrehen, um die Ereignisse ungeschehen zu machen?
Der Roman ist ein beschwörendes, nachdrückliches und gleichzeitig unaufdringliches Plädoyer für Mut, Optimismus, Ehrgeiz, Beharrlichkeit, Durchhaltevermögen und Wehrhaftigkeit, aber auch für Neugierde, Wissbegierde und unermüdliches Lernen.
Gleichzeitig übt er unausgesprochene Kritik an tatenloser und feiger Unterwerfung, stupider Wissensvermittlung, ignorantem Wegschauen, Sadismus und Gewalt.
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Ein mächtiger, angsteinflößender, jähzorniger, gewalttätiger und unberechenbarer Vater mit einem Faible für Jagd, Whisky und Fernsehen.
Eine schwache, eingeschüchterte und unscheinbare Mutter, die wie eine Maschine ihre Funktion erfüllt und ihrem Mann nur die Stirn bietet, wenn es um ihre geliebten Zwergziegen geht. Sie ist „Eine schlaffe, leere Hülle ohne eigene Ziele und Wünsche.“ (Pos. 1087, Kindle)
Ein 10-jähriges intelligentes Mädchen, das ihren kleinen Bruder beschützt und selbst von dessen Lachen und von der Liebenswürdigkeit und den Geschichten ihrer freundlichen und warmherzigen Nachbarin Monica lebt.
Ein 6-jähriger Junge, der sich an seine Schwester klammert und der im Verlauf des Romans eine erschütternde Entwicklung und Verwandlung durchmacht.
Das ist kurz und knapp die Beschreibung einer Familie, die im schönsten und größten Haus in einer hässlichen Reihenhaussiedlung am Rand des sog. Galgenwäldchens lebt und die wir 5 Jahre lang begleiten.
Es ist eine Familie, in der Zärtlichkeiten, Gespräche und der Austausch über Gefühle keine Rolle spielen und die in kühler, liebloser, distanzierter und angespannter Atmosphäre vor sich hin lebt.
Die Geschwister lieben es, ganze Nachmittage auf dem Autofriedhof zu verbringen und dort zu spielen.
Selbst die Angst vor dem grimmigen Schrotthändler kann sie nicht davon abhalten.
Und wenn abends der Eismann in ihre Straße kommt, dann laufen sie zusammen hin und kaufen sich ihren Nachtisch.
Wir lernen die Ich-Erzählerin kennen. Sie ist ein starkes, mutiges, beharrliches aber völlig überfordertes Mädchen, das mit seinen Sorgen und Nöten alleine zurechtkommen muss und Trost, Beruhigung und Halt in der Welt ihrer Phantasie und in originellen Ideen findet.
Dann, eines Tages ereignet sich ein Unfall, der den 6jährigen Gilles verstummen, erstarren und verhaltensauffällig werden lässt, weshalb seine Schwester, angetrieben von Liebe und Schuldgefühlen, einen Plan ersinnt, ihr Ziel beharrlich, eifrig und ehrgeizig verfolgt und über sich hinaus wächst…
Immer wieder werden wir mit Gewaltszenen, sowie brutalen und erschütternden Passagen konfrontiert. Eine bedrohliche Atmosphäre liegt über dem Ganzen.
Aufgrund der eindrücklichen und bildhaften Sprache und des fesselnden Inhalts fliegt man gebannt und gespannt durch das Buch und durchlebt Erschütterung, Enttäuschung, Verzweiflung und Wut der Ich-Erzählerin mit.
Das rasante Erzähltempo wird zeitweise unterbrochen durch zeitlupenartiges Fokussieren von Ereignissen.
Adeline Dieudonné streift oder überspringt Belangloses und stoppt bei wichtigen Ereignissen, die sie dann detailliert und mit schönen Vergleichen und Metaphern seziert und beschreibt.
Ich kann nicht umhin, einige wunderschöne Passagen zu zitieren:
„Ihr Gehirn war einfach im Energiesparmodus.“ (Pos. 978, Kindle)
„Bei Professor Pawlović stopfte ich mich regelrecht mit Wissen voll und verdaute es so schnell, dass ich gleich wieder Hunger auf mehr hatte.“ (Pos. 1195, Kindle)
„Auch ihre Sprache war zackig und präzise. Nichts Schwammiges, nichts Überflüssiges war zu hören.“
Die Autorin beschreibt hier den Austausch zweier Jungen.
Als ich diesen Satz gelesen habe, dachte ich, dass er haargenau auf die Ausdrucksweise der Autorin zutrifft.
Es scheint, als sei er ein Leitsatz beim Schreiben des Buchs gewesen.
Eine weitere Passage möchte ich zitieren, um daran zu demonstrieren, dass man Manches ganz langsam und bedächtig lesen sollte, weil es einem auf der Zunge zergeht:
„Und mir ging auf, dass die Angst mich seit der Nacht im Wald nie verlassen hatte. Sie war wie ein Aasgeier, der einem verletzten Tier folgte und die ganze Zeit über mir gekreist war. Ich hatte so getan, als merkte ich es nicht aber die Angst hatte mich nicht verlassen, sondern sich ganz tief in meine Eingeweide geschraubt.“ (Pos. 1953, Kindle)
Und jetzt noch ein letztes Schmankerl: „Jede Sekunde, die ich ihn sah, nagte ich in meinen Tagträumen ab wie einen Knochen, bis auch das letzte Fitzchen Fleisch abgelöst war.“ (Pos. 1969, Kindle)
Für mich ist „Das wirkliche Leben“ ein radikaler, wuchtiger und gewaltiger Roman mit einer fesselnden und brillanten Erzählweise voller Energie und Sprungkraft, die ich in dieser Form noch nicht erlebt habe.
Trotz großer Zeitsprünge hat man nicht das Gefühl etwas zu verpassen. Die Autorin erzählt unglaublich intensiv und eindrücklich und man kann wunderbar in das Innenleben der Protagonistin eintauchen.
Der Roman strotzt vor Entwicklung. Nicht nur, dass sich die beiden Hauptprotagonisten, die Geschwister, verändern und entwickeln.
Auch der Roman und die Autorin selbst scheinen sich rasant zu entwickeln.
Der Roman wird immer eindringlicher und packender und die Autorin läuft zur Höchstform auf.
Dieses Romandebüt der 1982 geborenen Adeline Dieudonné ist definitiv nichts für schwache Nerven und gleichzeitig ein must read!
Es ist nicht verwunderlich, dass es mit 14 Literaturpreisen ausgezeichnet wurde.
5/5⭐️
Die Rezension hat mich überzeugt und neugierig gemacht das Buch zu lesen. War sehr ergreifend und so waren Lesepausen nur von kurzer Dauer.
…jetzt haben wir vier den Roman gelesen und er hat uns allen gefallen! Schön, dass unsere Geschmäcker da übereinstimmen.
Frei nach dem Motto: geteilte (Lese-) Freude ist doppelte (Lese-) Freude 🤗
Hat mir auch gut gefallen.
Ja, ich weiß und das freut mich 😂