Dubois, Jean-Paul: Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise.

Gleich mal vorneweg: Der Titel gefällt mir gar nicht. Ich finde ihn zu lang, zu sperrig und ziemlich unpassend. Die folgende Rezension ist recht lang. Warum? Weil meine Begeisterung so groß ist. Die Kurzversion: Unbedingt lesen! Ein Highlight.

Wir beginnen zu lesen, reisen zurück in den Dezember 2009 und befinden uns zusammen mit dem 54-jährigen Ich-Erzähler Paul und seinem Mithäftling, dem Hells-Angel-Biker Patrick, in einer knapp über 6 m² großen Zelle in einem Gefängnis in Montreal.

Der schlaflose Paul.

Der vor Zahnschmerzen im Schlaf stöhnende Patrick.

Wehmütige und beruhigende Erinnerungen.

Ratten und Mäuse.

Dunkelheit.

Kälte.

Seit neun Monaten teilen sich die Beiden ihr kärglich eingerichtetes Domizil in der Haftanstalt.
Patrick war wohl an einem Mord beteiligt, Paul konnte gerade noch von einem Mord abgehalten werden.
Paul, der ein Vierteljahrhundert lang engagiert und selbstlos seiner Hausmeistertätigkeit in einer exklusiven Wohnanlage nachging, muss nun 2 Jahre im geschlossenen Vollzug verbringen, vermisst seine Arbeit und erinnert sich immer wieder an seine verstorbenen Lieben:
Pastor Johanes, sein Vater.

Die Algonkin-Indianerin Winona, seine Frau.

Nouk, seine Hündin.

Wie konnte aus Paul, der zunächst und auch im weiteren Verlauf des Romans einen so sympathischen, empathischen, zuverlässigen, fleißigen, hilfsbereiten und rechtschaffenen Eindruck macht, fast ein Mörder werden?

Was bringt einen gutmütigen Menschenfreund wie ihn dazu, jemanden fast umzubringen?

Warum sträubt sich Paul, der im Gefängnis hervorragende Beurteilungen für sein vorbildliches Benehmen bekommt und gute Aussichten auf Strafverkürzung hat dagegen, auszusprechen, dass er sich der Schwere seiner Tat bewusst ist und dass er sie aufrichtig bereut?

Im Verlauf lässt uns Dubois abwechselnd in Pauls Vergangenheit und in das Hier und Jetzt der Gefängniszelle eintauchen. Wir erfahren auf diese Weise so Einiges über Pauls Herkunft und Aufwachsen.

Sein Vater wuchs in Skagen, einer kleinen Stadt in Dänemark, auf. Mit seiner Berufswahl kehrte er der familiären Tradition, Fischer zu werden, den Rücken.

Seine Mutter Anna wurde in Toulouse geboren, war die Tochter von Kinobesitzern und trat schließlich in die beruflichen Fußstapfen ihrer Eltern.

Die beiden trafen sich in Skagen, heirateten und zogen nach Toulouse, wo 1955 Paul das Licht der Welt erblickte.

Seine Kindheit und Jugend scheinen unauffällig und durchschnittlich gewesen zu sein. Es fallen keine großartig erschwerenden Entwicklungsbedingungen auf.
Auffallend ist, dass die Beziehung zu seiner Mutter ziemlich kühl und distanziert war und weitere Schwierigkeiten scheinen zu sein, dass sein Vater, der Pastor, sich nicht gut in Frankreich integrieren konnte, er war Däne mit Leib und Seele, und dass seine Mutter, eine fortschrittlich denkende Kinobesitzerin, mit Kirche und Religion so gar nichts anfangen konnte und keine Rücksicht auf den Beruf ihres Mannes nahm. Beides führte immer wieder zu Streitigkeiten und Zerwürfnissen. Erst weniger, dann immer mehr.

Durchs Abitur rutschte Paul gerade so durch, das Studium gefiel ihm nicht besonders. Zu Hause lebte man nebeneinander her, die Streitpunkte zwischen den Eltern wurden gewichtiger und ernster.

Kino gegen Kirche.

Der Vater wurde schließlich entlassen. Seine Frau hat es mit ihrer Geschäftstüchtigkeit allzu ernst genommen und Rücksichtslosigkeit und Unnachgiebigkeit haben Oberhand genommen.

Trennung, Neubeginn…

Eine auf den ersten Blick relativ unspektakuläre, wenn auch sehr traurige Geschichte des Scheiterns einer Ehe und des Zerbrechens einer Familie. Eine Geschichte, wie man sie leider zu häufig antrifft.

Wieder drängt sich die Frage auf: Wann ist was passiert, das Paul fast zu einem Mörder werden ließ?

Sprachlich gefiel mir die Lektüre ausgezeichnet: ein lockerer, leichter, bisweilen flapsiger Plauderton,
einerseits nüchtern und emotionslos, die Gefühle entstehen beim Leser wie von selbst, andererseits mit viel Witz und trockenem Humor.
Diese nüchterne und zum Teil sarkastische Erzählweise zeigt die Brillanz des Autors, denn er gibt dem Ich- Erzähler Paul damit einen seiner Situation angemessenen Erzählton. Menschen, die einen grossen emotionalen Schmerz mit sich herumtragen, können über ihre innere Not oft nur reden, wenn sie es genau auf diese Weise tun. Paul gehört meines Erachtens zu diesen Menschen.

Angereichert hat Dubois seine Geschichte mit schönen Bildern, beeindruckenden Metaphern und interessanten sowie detaillierten Informationen zu diversen Themen.
Ausufernd oder langweilig werden diese Ausflüge zu Autos, Asbestbelastung, Laurens Hammond und seiner Hammond-Orgel, Pferderennen, den komplizierten Instandhaltungsmaßnahmen von Schwimmbädern und zum vielseitigen und anstrengenden Beruf eines Hausmeisters jedoch nicht.

Klare, detaillierte und ungeschönte Beschreibungen des Gefängnisalltags kommen in dem 256-seitigen Roman auch nicht zu kurz.

Es ist gleichermaßen eklig wie amüsant, die Entleerungszenen von Patrick detailreich beschrieben zu bekommen. Überhaupt ist Patrick einer, der der Geschichte Pep und Leichtigkeit verpasst. Und Patricks Charakter und Struktur ist es auch, die, wie die von Johanes und Paul, von Dubois wunderbar seziert wird.

Dubois lässt sich Zeit beim Erzählen und erschafft ein unaufgeregtes und ruhiges Stück Literatur.

Er ist ein Meister der bildhaften Umschreibung neutraler und wohlgefälliger Dinge.

Statt „(sie) kritisierten leidenschaftlich die Obszönität der gezeigten Filme“ schreibt er „(sie) kritisierten leidenschaftlich die widernatürliche Verwendung dieser weit geöffneten Kehle.“ (S. 76)

Ich kann nicht umhin, einige Beispiele für seinen Witz und für wunderbare Formulierungen anzuführen:

In Skagen spricht man „Fisch“ (S. 26) und Religion ist eine „Sportart“ (S. 27).

„Um mein zehntes Lebensjahr herum konnte jeder, der ein wenig aufmerksam war, die Scharniere der alten Welt knarzen hören“ (S. 33) – ein schönes Bild dafür, dass sich die Welt im Wandel befand.

„Ein langes Pfeifen, ein leichtes Ruckeln, und der Motor genehmigte sich ein Mittagsschläfchen von drei Stunden.“ (S. 54)

„Die Bibel vollzog einen majestätischen Gleitflug durch die Zelle und schlug gleich einem mit Schrot erlegten Vogel gegen die salpetrige Wand, hinter der man die Nagetiere scharren hörte.“ (S. 57)

Um zu beschreiben, wie der Pastor eine Predigt hält, schreibt er: „Er schwamm durch seine Worte wie ein Fisch im Wasser.“ (S. 115)

„(Es war schwer, diese 230.000 Liter Wasser des Schwimmbeckens) im Gleichgewicht zu halten, die sofort umkippen wollten, wenn ihr pH-Wert einbrach, oder sich zu biologischen Extravaganzen hinreißen ließen und eine ganze Algenkolonie einluden, welche, je nach Form und Farbe, das Becken in einen großen Molkereitank verwandelten oder ihm das wenig verlockende Kolorit von Spinat verliehen.“ (S. 149)

„Die Walze der Stunden zermalmt in ihrem unerbittlichen Voranrollen jedes Quäntchen Hoffnung, das in mir noch vorhanden sein möchte.“

Ich könnte noch unzählige beeindruckende Formulierungen anführen.

Die Figuren werden nicht eindimensional als Stereotype, sondern in ihrer Komplexität dargestellt. Es ist z. B. sehr interessant und amüsant, die unterschiedlichen Seiten von Patrick kennenzulernen.

Mich überzeugte der Roman mit seiner Sprache, den wunderbaren Bildern, der abwechslungsreichen und zunehmend packenden Handlung, den interessanten Informationen, der stimmigen Auflösung und dem runden Ende.

Paul scheint, trotz aller Widrigkeiten seinen inneren Frieden gefunden zu haben und ich habe mich wunderbar unterhalten gefühlt.

Dieser Roman ist eine Perle, der die Auszeichnung Prix Goncourt 2019 verdient hat.

5/5⭐️

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