Gerecke, Maik: Feßmann

Mobbing, Gerüchte, Vorurteile und das Feßmann-Projekt… lesenswert!

Mit dem Aufschlagen des Buches geraten wir in eine äußerst angespannte und hochbrisante Situation:
Der 17-jährige schwer adipöse Schüler Fabian Feßmann steht am ersten Schultag des neuen Schuljahres 1998/99 mit einem Messer und mit einem Wassergewehr der Marke „Super Soaker 200“ bewaffnet auf der Bühne in der Aula seiner Schule.
Die Zugangstür hat er verriegelt, Lehrer und Schüler können nicht fliehen.

Mit Beginn des zweiten Kapitels normalisiert sich der Adrenslinsspiegel wieder, aber Neugierde und Spannung sind geweckt.
Wir erfahren, dass der ebenfalls 17-jährige Ich-Erzähler nach vielen Umzügen und Schulwechseln, bedingt durch den Beruf seines Vaters, in o. g. Schule gelandet ist.

Erfahrungsbedingt hat der zunächst uneingeschränkt sympathische, kommunikative und offene Ich-Erzähler keine Probleme, in einem neuen Dorf und in einer neuen Schule Fuß zu fassen.

Gleichzeitig weiß er, wie schmal der Grat vom Neuen zum Außenseiter ist und kann sich deshalb in eine solche Rolle gut einfühlen.

Bereits am ersten Tag erlebt er mit, wie Fabian Feßmann gemobbt, gedemütigt und ausgegrenzt wird und es dauert nicht lange, bis er einen Einblick in all die unfassbaren Erniedrigungen bekommt, denen sein Mitschüler ausgesetzt ist.

Sehr anschaulich zeigt Maik Gerecke die innere Ambivalenz des Ich-Erzählers auf. Er ist hin- und hergerissen zwischen Mitgefühl, Beschützerinstinkt und dem Impuls, sich gegen Ungerechtigkeit und Bösartigkeit aufzulehnen einerseits und der Angst, durch Solidarisierung selbst in eine Außenseiterrolle zu geraten, andererseits.

Aber natürlich ist der Ich-Erzähler auch ein „ganz normaler“ Jugendlicher, dessen Testosteronspiegel nach Taten schreit und dessen Ego ehrgeizig danach strebt, Besonderes zu erreichen und dadurch Ruhm zu erlangen.

Der Ich-Erzähler spürt mit einer unumstößlichen Gewissheit, dass ein Hinterfragen, ein Kritisieren oder ein Aufbegehren ihn aus seiner noch instabilen Rolle des interessanten Neuen herauskatapultieren und aus ihm selbst ein Ziel für Erniedrigungen machen würde.

Und dann entscheidet sich der Ich- Erzähler dafür, ein Risiko einzugehen:
Wie sein Vater, ein Architekt, der hierher versetzt wurde, um eine Brücke zu bauen, wollte auch er ein Brückenbauer sein.
Ein Brückenbauer zwischen dem Außenseiter Fabian Feßmann und seinen Peinigern.

Darüber, wie er das macht, ob bzw. inwieweit ihm das gelingt und welche Rolle Debbie, das begehrteste Mädchen der Schule, dabei spielt, werde ich natürlich nichts berichten, aber es lohnt sich auf jeden Fall, es selbst herauszufinden.

Der Roman fesselte und überzeugte mich von der ersten Seite an.
Nach zwei Dritteln ließ meine Begeisterung etwas nach. Das mag damit zusammenhängen, dass ich die Handlung ab da etwas zu konstruiert und ein bisschen unglaubwürdig empfand. Aber trotzdem konnte und wollte ich nicht aufhören, weiterzulesen. Ein gewisses Bedauern darüber, dass die bis dahin gefühlte Brillanz nachließ, überschattete ab da die Lektüre.

Gleichzeitig und vor allem im Nachhinein war und ist da eine Faszination für die Fantasie des Autors und dachte und denke ich, dass trotzdem alles zusammengepasst hat und dass der Autor mit seiner Zuspitzung eine Möglichkeit gewählt hat, um zu verdeutlichen, was er mit seinem Text aussagen will.

Das Ende, bei dem man schließlich erfährt, wie der Amoklauf in der Aula ausgeht, hat mich dann positiv überrascht, weil es desillusioniert und Abgründe fernab von romantischen Wünschen oder Vorstellungen aufzeigt.

Vordergründig geht es um Mobbing und seine pot. Auswirkungen, aber eigentlich geht es um viel mehr: Gerüchte, Vorurteile, Gruppendynamik, die Macht der Gewohnheit, die Angst vor Veränderung und die Bereitschaft, seine eigene Haut auf Kosten Anderer zu retten. Um nur einiges zu nennen.

Der Text beinhaltet zwischen den Zeilen ein Plädoyer für Selbstreflexion, Empathie, die Offenheit, zu hinterfragen und die Courage, sich gegen Ungerechtigkeiten aufzulehnen, statt sich bequem anzupassen und unterzuordnen.

Er zeigt aber auch auf, dass der Trieb „seinen eigenen Arsch zu retten“ manchmal stärker ist als das moralische Gewissen.

„Feßmann“ ist ein wortgewaltiger, wuchtiger, flott, bildhaft und fesselnd erzählter Text.
Der Autor beweist psychologisches Gespür und Feingefühl. Er behandelt seine Themen differenziert in ihrer Komplexität und schafft es, eine drückende, gespannte und düstere Atmosphäre zu erschaffen, die das Buch durchzieht.

Während des Lesens kam mir der Gedanke, dass sich das Buch als Schullektüre für Jugendliche eignen könnte, weil es so viele aktuelle, brisante und wichtige Themen beinhaltet und diese flott und spannend behandelt.

Die Lektüre drängt regelrecht auf Austausch und ist deshalb sehr geeignet für eine Diskussion, z. B. in einem Lesekreis.

4/5⭐️

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