Kollender, Andreas: Mr. Crane

Zwei mal acht Tage in einem Sanatorium in Badenweiler im Schwarzwald – 1900 und 1914.

Herbst 1914. Elisabeth, der 39-jährigen Oberschwerster, ist es auf dem Flur des Sanatoriums, als würde sie vom Blitz getroffen, als ihre Kollegin Victoria den Namen Stephen Crane erwähnt. Als sie dann im Park ein Buch dieses amerikanischen Schriftstellers auf der Bank am Brunnen entdeckt, braucht sie erst einmal einige Zeit, um wieder zu sich zu kommen. Erinnerungen ploppen auf, Gefühle übermannen sie. Stephen Crane war vor 14 Jahren acht Tage lang Patient hier in dieser Heilstätte für Lungenkranke. Er wurde damals wegen der Zuspitzung seiner bereits länger bestehenden Tuberkulose eingeliefert und sie war seine Krankenschwester.

Die Ankündigung seines Kommens und sein Aufenthalt selbst waren einschneidende Ereignisse für Elisabeth, denn sie hatte alle seine Bücher gelesen und eines davon, „The Monster“, berührt sie nach wie vor ganz besonders, weil sie sich mit dessen entstellter Hauptfigur identifiziert. Schon die ersten Momente ihrer Begegnung waren außergewöhnlich und intensiv: die Blicke, der Händedruck. Während sich Fieberphasen mit klaren Momenten abwechselten kamen sich Elisabeth und der 28-jährige Stephen Crane über die Tage hinweg näher. Es war für Elisabeth eine aufregende, ereignisreiche und lebensverändernde Zeit voller verstörender, aufwühlender, glücklicher und erregender Momente.

Erzählt wird die Geschichte auf zwei Zeitebenen. Wir wechseln stetig zwischen 1900 und 1914 hin und her und begleiten die Protagonisten auf beiden Strängen jeweils acht Tage lang.

1914 erinnert sich Elisabeth an die Tage mit Mr. Crane und betreut gleichzeitig den stummen 25-jährigen Bernhard Fischer, einen Lieutenant der im 1. Weltkrieg verletzt wurde. Er ist der erste verwundete Soldat, der im Sanatorium aufgenommen wurde und er liegt in dem Zimmer und in dem Bett, in dem einst Steven Crane lag. Er ist der Besitzer des oben genanntem Buches, das all‘ die Erinnerungen ausgelöst hat. Der Autor jongliert hier, auf dieser Ebene, zwischen Erinnerungen und gegenwärtigen Geschehnissen.

Der andere Erzählstrang spielt 1900, in dem Jahr, in dem die für Elisabeth überwältigende Begegnung mit Mr. Crane stattfand. Hier tauchen wir in Elisabeths kurze Zeit mit dem „komischen Vogel“ (S. 63) und in Cranes zum Teil verworrene Erinnerungen, sowie in seinen „großen Koffer voller Geschichten“ (S. 75) ein.

Bereits auf den ersten Seiten stolperte ich über eine eindrucksvolle Formulierung:„Das Leben sei schön, sagte Mr. Crane, es komme immer darauf an, wohin man sehe. Komme darauf an, wo das Rettungsboot sich gerade befinde, auf dem Wellenkamm oder im Tal, umschlossen von grauem Wasser.“ (S. 72)

Ebenfalls bereits auf den ersten Seiten bekam ich große Lust auf den Kurzroman „The Monster“, den Stephen Crane geschrieben hat und von dem Elisabeth so fasziniert war. Ich kam nicht umhin, ihn mir zu kaufen, so neugierig hat mich die Krankenschwester darauf gemacht.

Durch die Lektüre erfahren wir auf originelle Weise, nicht chronologisch, sondern ungeordnet und in Bruchstücken etwas über Steven Crane und sein Leben. Wir bekommen einen Eindruck von dem 1871 in New Jersey als 14. Kind geborenen Schriftsteller, der mit 28 Jahren im Sanatorium in Badenweiler seiner Tuberkulose erlag.

Das Buch zu lesen bedeutet darüber hinaus auch, eine außergewöhnliche Frau kennenzulernen, die mehr als einmal Schicksal gespielt hat und es bedeutet, in unkonventionelle Innenwelten einzutauchen, in der Paranoia, Fieberfantasien, Erinnerungen, wahre, erfundene oder beschönigte Geschichten eine Rolle spielen und erotische Szenen sowie morbide und sehnsüchtige Fantasien, Extreme und Obsessionen vorkommen.

Wir werden mit makaberen und nahezu unfassbaren Szenen konfrontiert und manchmal können wir über die Protagonistin nur den Kopf schütteln. Gegen Ende wird die Atmosphäre zunehmend dramatisch, was äußeren Geschehnissen und inneren Entwicklungen geschuldet ist.

Andreas Kollender erzählt sowohl eine außergewöhnliche Liebesgeschichte, als auch eine biographische Geschichte. „Mr. Crane“ ist Realität eingebettet in Fiktion.

Ich empfehle das Werk sehr gerne weiter! Es ist kurzweilig, unterhaltsam, spannend und interessant.

… und jetzt freue ich mich auf „Die Tapferkeitsmedaille“, das wohl bekannteste Werk von Stephen Crane, denn auch darauf hat mich Andreas Kollender mit seinem lesenswerten Roman neugierig gemacht..

4/5⭐️

🇩🇪

3 Gedanken zu “Kollender, Andreas: Mr. Crane

  1. Freut mich, wenn ich Ihnen einige gute Lesestunden bereiten konnte.
    Elisabeth schaut bei mir übringens immer noch täglich kurz vorbei.

    Grüße,
    Andreas Kollender

    1. Das haben Sie!
      Aber wie soll ich das verstehen, dass Elisabeth noch täglich kurz vorbei schaut? Sie ist doch „jetzt“ in Amerika🤔 … aber andererseits: Sie ist schon eine äußerst bemerkenswerte Frau. Dass sie noch täglich in ihrem Kopf herumgeistert, kann ich mir gut vorstellen.
      Oder erfahren Ihre Leser demnächst, wie es mit Elisabeth weiter geht?🤔
      Hmmm… mystische Aussage😉
      Herzliche Grüße,
      Susanne Probst
      P. S.: Vom Autor persönlich einen Kommentar zu bekommen, empfinde ich als große Ehre. Danke💐

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