Levine, Norman: Aus einer Stadt am Meer

So farbenfroh und fröhlich wie auf dem Cover geht es in dem Roman nicht zu.

Der Roman „Aus einer Stadt am Meer“, der bereits 1970 erstveröffentlicht wurde und dessen Übersetzung ins Deutsche erst 50 Jahre später erfolgte, spielt im England der 1960-er Jahre.

Der ca 40-jährige Ich-Erzähler Joseph Grand, ein Reiseschriftsteller, nörgelt gleich zu Beginn ziemlich an seiner Frau Emily herum. Sie sei schusselig, schüchtern und abergläubisch. Ein Freund habe ihm von ihr abgeraten. Aber sie scheint auch durchaus ihre Reize zu haben: Sie bewege sich anmutig, sei auf einer Party „der Hingucker“ und mache ihn „scharf“. (S. 8)

… hmmm… was für ein Beginn 🤔

Joseph und Emily sind seit 12 Jahren verheiratet und ein eingespieltes Team, was ihre Familie betrifft. Sie haben drei Töchter, Rebecca, Ella und Martha, die mit ihren 9 Jahren die älteste der Schwestern ist.

Die Familie Grand lebt in dem beschaulichen fiktiven Küstenort Carnbray in Cornwall, im Süden Englands, wo sich weder Joseph noch Emily wohl fühlen.

Joseph hat einen Weg gefunden, um der öden Kleinstadt und dem langweiligen Alltag immer wieder zu entkommen. Er unternimmt regelmäßig berufsbedingte Kurzreisen, um darüber Reiseberichte zu verfassen oder er fährt für mehrere Tage nach London, um mit einem Tapetenwechsel die Lethargie seines Daseins zu durchbrechen. Von diesen Ausflügen bringt er regelmäßig Leckereien, Geschenke und sexuelle Gelüste mit.

In London wohnt er bei seinem Freund Albert, einem äußerst hilfsbereiten, aber nicht besonders ehrgeizigen, wenig gewissenhaften, wankelmütigen und erfolglosen Schriftsteller. Er besucht dort auch Charles, einen wohlhabenden und renommierten homosexuellen Maler.

Josephs Freund in Carnbray ist der 42-jährige einheimische Meeresbiologe Jimmy Middleton. Er wohnt mit Frau und Kindern im schönsten Haus des Ortes und hat zwei Seiten: Er ist bodenständig und zuverlässig, aber er geht auch regelmäßig fremd, um sexuelle Abenteuer zu erleben.

Eines Tages gerät Joseph unverschuldet in Geldnot. Aber Rechnungen müssen bezahlt werden und die Miete steht an. Das Essen wird rationiert. Dass Emily just in dieser Phase eine Halbtagsstelle als Lehrerin angeboten wird, rettet die Familie zwar mit Ach und Krach vor dem finanziellen Ruin, aber diese Wendung bringt so Einiges im gewohnten Familienkonstrukt und im eingespielten Beziehungsgefüge der Eheleute durcheinander.

Joseph zieht sich zunehmend in sein Arbeitszimmer zurück und schwelgt in Tagträumen und Erinnerungen. Dadurch erfahren wir so Einiges über ihn:

Joseph hat jüdische Wurzeln und ist 1926 in Polen geboren. Er hat eine Schwester, Mona. Als er drei war, wanderten seine Eltern mit den Kindern nach Kanada aus. Nach Ottawa, weil der Onkel mütterlicherseits dort lebte. Im 2. Weltkrieg war Joseph Pilot, der in England stationiert war. Nach dem Krieg und einem Studium in Montreal emigrierte er nach England. In Carnbray traf er Emily. Sie ließen sich dort nieder, heirateten und bekamen Kinder.

Aber Joseph schwelgt nicht nur in Erinnerungen und Tagträumen – ihm wird immer klarer: „Ich hasse diesen Ort. Das Einzige, woran ich denke, ist, wie ich uns hier wegbringen kann. Oben in meinem Arbeitszimmer klebt ein Zettel an der Wand: Du musst hier weg, der mich die ganze Zeit anstarrt. Ich will mein Leben nicht in diesem gottverlassenen Küstenkaff beenden.“ (S. 64)

Natürlich verrate ich nicht, wie die Geschichte weitergeht, ob es Joseph gelingt, einen Ort für sich und seine Familie zu finden, an dem sie sich alle wohl fühlen und ob sie es schaffen, der finanziellen Misere zu entkommen.

„Aus einer Stadt am Meer“ ist stark autobiographisch geprägt. Die biografischen Parallelen von Autor und Protagonist lassen sich unschwer übersehen.

Eingestreute Briefe durchbrechen den gleichmäßigen Lesefluss und machen die ansonsten eher ruhige und unspektakuläre Geschichte abwechslungsreich. Originell ist, dass Norman Levine zwischendurch eine stark autobiographisch geprägte Erzählung einfügt, die sein Protagonist, der Schriftsteller Joseph geschrieben hat. Eine autobiographisch geprägte Geschichte des Protagonisten innerhalb der autobiographisch geprägten Geschichte des Autors sozusagen 😉

Levine beschreibt den Alltag seiner Protagonisten detailliert und prägnant. Er erzählt Josephs Geschichte freizügig, unbefangen und ohne Scham.

Kein Wort ist zu viel, keines zu wenig. Er hält sich eher kurz und knapp. Statt ausufernd zu werden, schreibt und erzählt er mit schlichten Worten und trifft dabei den Kern.

Die Geschichte, in deren Verlauf man Josephs Innenleben, seinen Alltag, seine Familie, Freunde und Bekannte kennenlernt, plätschert so unprätentiös und unaufgeregt dahin, wie sein Leben.

Melancholie und Unzufriedenheit schweben über der Geschichte wie über seinem Leben.

Man spürt regelrecht die Enge und die Beklemmung, die Joseph und auch Emily in Carnbray empfinden.

Am Ende des Buches war ich fasziniert davon, dass Norman Levine aus einem so tendenziell unspektakulären Leben eine so fesselnde Geschichte gemacht hat.

Ich war und bin außerdem beeindruckt davon, wie er die Stimmung seiner Protagonisten vermittelt hat.

Gleichzeitig war ich beim Zuklappen des Buches erleichtert, dieser überwiegend niedergedrückten, beklemmenden und hoffnungslosen Atmosphäre zu entkommen.

Man fragt sich am Ende, inwieweit das Sprichwort „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“ zutrifft, inwiefern man die Ruder seines Lebens in der Hand hat und wann es klug und sinnvoll ist, sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren und das Beste daraus zu machen.

Frei nach dem Motto „Ändere, was Du ändern kannst und nimm hin, was Du nicht ändern kannst.“

4/5⭐️

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