Major, Kevin: Caribou

Mit dem Beginn der Lektüre vollziehen wir eine Zeitreise zurück in den Oktober 1942, landen wir im Atlantik vor Neufundland, befinden wir uns im U-Boot U 69, lesen wir Notizen des Kriegstagebuchs des Ich-Erzählers Ulrich Gräf und erleben wir den Moment, in dem ein Torpedo auf die zivile Fähre Caribou abgeschossen wird.

Nach diesem kurzen und knackigen Einstieg geht es zurück in die Zeit vor dem Abschuss.

Der zeichnerisch begabte und an Malerei interessierte Ulrich Gräf erinnert sich an seine Grundausbildung 1935 beim Militär, an seinen sarkastischen und sadistischen Ausbilder Jodeit, der mit Demütigungen nicht geizte, an den Zusammenhalt unter den Kameraden und an sein Ziel, endlich Teil der Marine zu werden.

Dann schwenkt der Autor seinen Blick zum zivilen Passagierschiff „Caribou“, einer Fähre, die zwischen dem kanadischen Festland und Neufundland hin- und herpendelt und an dessen Bord sich etliche Soldaten befinden, die nach ihrem Heimaturlaub wieder auf dem Weg zu ihren Stützpunkten in Neufundland sind.

Wir begegnen dort der 61-jährigen alleinstehenden und taffen Bride, die als Chef-Stewardess auf der Caribou nach dem Rechten sieht, dem Schiffskellner John Gilbert, den wir bis zum Ende des Romans begleiten, sowie dem reservierten und selbstbewusst und souverän auftretenden Kapitän Ben Taverner und dessen Söhnen Harold und Stanley, die auch zur Mannschaft gehören.

Das Gespräch der drei Männer kreist um die Sorge, von den Deutschen versenkt zu werden, da diese sicherlich über die Anwesenheit der Soldaten an Bord informiert sind.

Im weiteren Verlauf folgen wir abwechselnd zwei Handlungssträngen, die aufeinander zustreben, sich schließlich treffen und in eine Katastrophe münden, die nach dem ersten Drittel stattfindet:

„Rohr fünf- Feuereerlaubnis“,

„Rohr fünf – los!“,

„Als das Geschoss einschlägt, ist er nicht einmal überrascht. Es ist ein bleischwerer Stoß, der ihm ins Mark seiner Knochen fährt.“ (S. 109 f.)

An dieser Stelle des Romans, auf die man gespannt hinfiebert, fragt man sich fast zwangsläufig, was denn wohl in den restlichen zwei Dritteln noch erzählt wird, wo doch das Drama, von dem berichtet werden soll, bereits stattgefunden hat.

Aber das verrate ich natürlich nicht…

Stattdessen möchte ich noch ein paar weitere Worte zum Geschehen bis dahin verlieren:

Wir begleiten Ulrich Gräf, der sich vom Kadetten auf der Gorch Fock zum Torpedo-Offizier, Oberfähnrich zur See, Bordfunker, Oberleutnant und schließlich zum Kommandanten der U 69 entwickelt.

Wir erleben ihn und seine Mannschaft bei gefährlichen Einsätzen im Atlantik und bei Landgängen, die dem Genuss und der Befriedigung von Gelüsten und Trieben gewidmet sind.

1942, nach seiner ersten sog. Feindfahrt als Kommandant, lernt der 26-jährige Ulrich Gräf die Krankenschwester Elise kennen.

Eine Liebesgeschichte beginnt. Unterbrochen wird sie immer wieder durch wochen- und monatelange Missionen, in denen die U 69 „…auf die Pirsch (ging), um nach Beute Ausschau zu halten, die nicht unter Naturschutz stand.“ (S. 93)

Daneben und in konsequentem Wechsel bekommen wir einen Einblick in den Alltag der Caribou, begegnen Reisenden und Besatzung, verfolgen deren Gespräche und beobachten diverse Techtelmechtel und Rivalitäten sowie das fröhliche Miteinander im Gesellschaftsraum, in dem der Pianist Buzz die Swing-tanzenden Passagiere unterhält.

Die Atmosphäre wird authentisch dargestellt und die verschiedenen Charaktere werden dem Leser detailliert vorgestellt und in ihrer Unterschiedlichkeit und Vielschichtigkeit gezeichnet.

So z. B. der Kommandant der U 69. Ulrich Gräf wird weder eindeutig noch ausschließlich als herzloses und kaltblütiges Ungeheuer dargestellt, das seinem Jagdtrieb, dem Beutefang oder gar seiner Lust zu töten freien Lauf lässt.

Ganz deutlich zeigt der Autor auch seine ernsthaften, zweifelnden, sinnlichen, musischen, tiefgründigen, menschlichen, freundlichen und liebenden Seiten.

Es ist schwer möglich, Gräf durch und durch und ohne wenn und aber abzulehnen.

Der Autor wertet nicht, er beschreibt differenziert und überlässt es dem Leser selbst, sich ein Bild zu machen und sein Urteil zu bilden, wenn er denn mag und kann.

Kevin Major hat eine bildgewaltige Sprache. Manche Passagen musste ich mehrmals lesen, weil das Bild, das vor dem geistigen Auge entstand so beeindruckend war.

Wie der Ich-Erzähler und Protagonist Ulrich z. B. seinen ersten Eindruck von Neufundland beschreibt ist kurz gesagt brillant. Wäre der Abschnitt nicht so lang, würde ich ihn hier zitieren. Meinem Mann „musste“ ich ihn zumindest vorlesen 😉

Die Struktur des Romans folgt einem strengen Perspektivenwechsel. Beide Handlungsebenen sind im Präsens geschrieben, was das Erleben intensiviert und die Spannung steigert.

Der „U-Boot-Strang“ wird aus der Sicht Ulrichs erzählt, der „Caribou-Strang“ aus der Perspektive eines allwissenden Erzählers.

Diese Ebenen- und Perspektivwechsel sowie die recht kurzen Kapitel schaffen Abwechslung und machen das erste Drittel des Romans zu einem atemberaubenden Pageturner.

Der Rest war zunächst etwas ruhiger und stellenweise etwas langatmig. Ich empfand ihn phasenweise als zu technisch und zu faktenlastig.

Es geht oft zu sehr in Richtung Berichterstattung.

Trotzdem war auch das zweite Drittel interessant, nur eben nicht so fesselnd.

Gegen Ende nimmt der Roman dann noch einmal Fahrt auf und der Puls des Lesers beschleunigt sich erneut.

Wieder laufen zwei Stränge aufeinander zu, wieder treffen sie sich, wieder ereignet sich als Höhepunkt ein tödlichen Ereignis.

In „Caribou“ lesen wir vor geschichtlich wahrem Hintergrund u. a. von einer furchtbaren, ebenfalls wahren Begebenheit in der Cabot-Straße vor Neufundland, die sich im Oktober 1942 ereignet und 137 Menschenleben gefordert hat.

Wir begegnen neben fiktionalen Figuren auch Personen, die real existiert haben.

So zum Beispiel der Ich-Erzähler Ulrich Gräf, der von März 1942 bis Februar 1943 Kommandant des deutschen U-Bootes U 69 war, oder Wilhelm Lachnit, ein deutscher Maler, dessen Zeichnungen z. T. als entartete Kunst konfisziert wurden oder auch Karl Dönitz, der ein deutscher Marineoffizier, NSDAP-Mitglied, treuer Gefolgsmann Hitlers, schliesslich Oberbefehlshaber der gesamten Kriegsmarine und wenige Tage lang der letzte Reichspräsident des dritten Reichs war.

Reale Ereignisse in Fiktion eingebettet.

Für mich war es äußerst interessant und bereichernd, in eine fremde, nämlich die „nautische“ Welt, einzutauchen, mehr über Neufundland zu erfahren, das Kriegsgeschehen aus einer für mich neuen Perspektive zu betrachten und ein Ereignis zu fokussieren, das mir bisher völlig unbekannt war.

Ein besonderes Schmankerl waren für mich die kleinen Ausflüge in die Kunst zu Otto Dix und Franz Marc.

Der Roman unterhielt mich prächtig und erweiterte meinen Wissenshorizont.

Er eröffnete mir nicht nur eine neue Welt und neue Sichtweisen, sondern brachte mich auch immer wieder zum Nachdenken.

In Anbetracht dessen, dass es um ein wahres Ereignis geht, sind die Emotionen, die der an sich eher nüchtern geschriebene Roman auslöst, besonders intensiv.

Die angehängten Originalfotos sind eine schöne Dreingabe und das Nachwort zum U-Boot-Krieg ist informativ.

Aufgrund all dieser Eindrücke und Überlegungen lautet mein Fazit:

Klare Leseempfehlung, aber kein Highlight.

4/5⭐️

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6 Gedanken zu “Major, Kevin: Caribou

  1. Man beachte, wie ich das „Männerbuch“ gesetzt habe 😉!
    Die Thematik wird im Allgemeinen (und nur da!) schon eher Männer ansprechen. Die Protagonisten sind männlich, Frauen haben eher Nebenrollen. So war es in Kriegszeiten bei der Marine/auf dem Meer.
    Zudem gibt es in der zweiten Hälfte viele Fakten. Männer lesen (wieder im Allgemeinen) gerne Sachbücher, möchten etwas Geschichtliches. Politisches etc.
    lernen, sind Gefühligem gegenüber (im Allgemeinen) nicht so aufgeschlossen. Das meinte ich. Keine Schubladen. Jeder soll lesen, was er mag!
    Und das ich dich um das Leseverhalten von deinem Liebsten beneide (nur ums Leseverhalten!), das weißt du längst!!!

    1. … ich habe das schon verstanden, liebe Sabine. Die Anführungszeichen habe ich natürlich gesehen und dass die Begriffe „Männer-“ oder „Frauenbuch“ Tendenzen beschreiben und nicht zwangsläufig Schubladen sein müssen, sehe ich genauso. Wir sind uns einig😂

  2. Deine Rezension ist zwar anders aufgebaut als meine, aber inhaltlich sind sie nahezu deckungsgleich. Wir haben dieselben Stärken und Schwächen empfunden;)
    Vielleicht doch eher ein „Männerbuch“😆😆😆???

    1. Liebe Sabine,

      ich werde mir jetzt gleich mal deine Rezension zu Gemüte führen.
      Ich lese ja in der Regel keine ausführlichen Rezensionen, bevor ich die Bücher nicht selbst gelesen habe. Aus Sorge, gespoilert zu werden😂 Aber umso lieber lese ich sie dann hinterher, um die Gedanken und Eindrücke anderer Leseratten kennen zu lernen.
      Als „Männerbuch“ würde ich den Roman insofern nicht bezeichnen, als dass das implizieren könnte, dass er Frauen nicht gefällt.
      Aber als Buch, das unbedingt auch für Männer geeignet ist, würde ich ihn bezeichnen.
      Ich glaube nämlich, dass Männer eher zu männerspezifischen Themen greifen, während Frauen da ein breiteres Spektrum haben. Aber das ist nur eine Vermutung, die auf „nichts“ basiert 😉Und ich könnte mir vorstellen, dass der ein oder andere Mann über diese Aussage vielleicht nicht gerade erfreut ist. Mein eigener ist da nämlich eine rühmliche Ausnahme. Er liest sehr gerne „Frauenromane“ – ach was! Romane, die üblicherweise Frauen bevorzugen… Womit ich meine: Romane, die Themen beinhalten, die üblicherweise eher Frauen ansprechen und zu denen die meisten Männer nicht typischerweise greifen… ich rede mich hier gerade um Kopf und Kragen, weil mir Schubladen nicht gefallen. Eigentlich gefallen mir diese Begriffe „Männerromane“ und „Frauenromane“ gar nicht so gut, aber sie sollen ja nur Tendenzen angeben… Und ich weiß, was du meinst!

      Sei lieb gegrüßt,
      Susi

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