Durand, Jacky: Die Rezepte meines Vaters

Eine berührende Familiengeschichte. Eine ergreifende Geschichte über eine Vater-Sohn-Beziehung. Eine erstaunliche Coming-of-Age Geschichte. Ein bewegender Entwicklungsroman.

So könnte man das Buch „Die Rezepte meines Vaters“ einordnen.

Zu Beginn des Romans, der in Frankreich spielt, sitzt der erwachsene, ca. 1960 geborene, Ich-Erzähler Julien, am Krankenhausbett seines Vaters in der Palliativstation. Seit sechs Monaten liegt Henri dort. Vor drei Wochen ist er ins Koma gefallen. Der Tod scheint unmittelbar bevorzustehen.

Julien schwelgt in Erinnerungen und erzählt seinem Vater aus seinem Leben. Er erinnert sich an viele Episoden und gemeinsame Erlebnisse im „Le Relais fleuri“, dem Bistro seines Vaters, das Julien jetzt am Laufen hält.

Dabei wird immer klarer, dass wir es mit einer schwierigen Vater-Sohn-Beziehung zu tun haben.

Julien konnte seinen Vater, den kühlen, wortkargen und unnahbaren Küchenchef wohl trotz aller Bemühungen emotional nicht erreichen. Es resultierte ein distanziertes Verhältnis, das von Seiten des Sohnes einerseits von Bewunderung, tiefer Zuneignung und großer Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung sowie andererseits von Wut und manchmal sogar von Hass geprägt war.

Eine eindrückliche Aussage des Sohnes, die diese traurige Tatsache bestätigt, ist: „Ich mag es, wenn du mit mir meckerst. Das heißt, dass du dich für mich interessierst.“ (S. 68)

Es macht großen Spaß, über die Gedanken und Erinnerungen des Ich-Erzählers in die Welt des Kochens einzutauchen. Julien erinnert sich an die Spezialitäten und Lieblingsrezepte seines Vaters Henri, einem außergewöhnlichen und leidenschaftlichen Koch, es fallen ihm Szenen aus der Küche ein und er erzählt feinfühlig und warmherzig Anekdoten aus seiner Kindheit und Jugend im Bistro, das im Erdgeschoss des Elternhauses untergebracht ist.

Wir lernen Julien, seine Biographie, seinen Alltag, seine Innenwelt und seine Bezugspersonen auf diese Weise immer besser kennen.

Obwohl das Setting ernst, bedrückend und traurig ist und obwohl ein Hauch von Sehnsucht und Wehmut über der Geschichte schwebt, ist es keineswegs deprimierend, den Roman zu lesen.

Wenn man von pochierten Eiern mit Pfifferlingen und Zitronentarte liest, läuft einem das Wasser im Mund zusammen, wenn man sich mit Hilfe von Juliens gedanklicher Beschreibung vorstellt, wie Königinpastete zubereitet wird, bekommt man Lust aufs Kochen, es ist amüsant, zu lesen, dass der Sohn nicht selten Rotwein, Schinken im Heumantel, Käse und andere Delikatessen ins Krankenzimmer geschmuggelt hat, um seinem Vater eine kleine Freude zu bereiten und es ist rührend, zu beobachten, wie der Sohn seinen Vater mit einem Duftwasser einreibt, obwohl dessen Motto während seiner Berufstätigkeit war: „Ein Koch benutzt kein Duftwasser. Das verdirbt ihm die Nase und die Geschmackszellen.“ (S. 11)

Daneben gibt es auch Momente, in denen man ziemlich wütend auf den ungeduldigen, barschen und ziemlich kaltherzigen Vater wird. Er war dem Sohn, der von Kindesbeinen an selbst leidenschaftlich am Kochen interessiert war und nach drei zermürbenden Jahren an der technischen Fachoberschule und einem Studium der Literaturwissenschaften inzwischen Vaters Bistro über Wasser hält, ein ziemlich schlechter Lehrmeister.

Stop! Darauf sollte ich vielleicht differenzierter eingehen. Julien hat Talent und Begeisterung von seinem Vater „geerbt“ und unglaublich viel von seinem Vater gelernt, weil der ihn mithelfen, über die Schulter schauen und ausprobieren ließ, aber er hat ihm kein einziges Rezept erklärt und sich strikt geweigert, ihm seine Kochgeheimnisse anzuvertrauen oder sein Rezeptbuch zu vererben.

Und nicht nur das! „In einem Anfall kalter Wut“ (S. 16) hat der Vater wohl eines Tages beschlossen, seine Rezeptsammlung verschwinden zu lassen. Nicht selten fragt der Sohn sich nun, wo der Vater „das verfluchte Rezeptbuch“ (S. 18) versteckt haben könnte.

Julien erzählt trotz der spürbaren Einsamkeit und Wehmut zackig und lebendig. Man saust regelrecht durch das Buch, weil man neugierig auf diese Vater-Sohn-Beziehung und auf alles andere drum herum ist.

Schon recht bald erfährt man, dass Juliens Mutter Hélène eine Französischlehrerin ist, die ihre Nase ständig in Bücher steckt und man bekommt den Eindruck, dass Henri seine Partnerin, die er unter allen Umständen von der Küche fernhaften will, aufrichtig liebt und äußerst gern mit Champagner und Austern verwöhnt.

Etwas verblüfft lese ich, dass die Beziehung zwischen Vater und Sohn einst recht gut gewesen zu sein scheint. Julien erinnert sich an viele Episoden mit seinem Vater, in denen man ihr Verhältnis unschwer als unbeschwert und den Vater ohne weiteres als liebevoll und geduldig beschreiben kann.

Eines Tages schenkt Hélène Henri ein Notizbuch, in das hinein sie seine Rezepte, die er ihr diktieren soll, schreiben möchte. Von Diktat zu Diktat entfernen sich die beiden voneinander. Sie, die einst so liebevoll und neckisch miteinander umgegangen sind, entfremden sich mehr und mehr.

Was ist da passiert? Haben die Rezeptsammlung und der dadurch eingeleitete Prozess etwas damit zu tun, dass Henri und seine Beziehung zu seinem Sohn Julien sich so zum Nachteil verändert hat? Und wo ist das Rezeptbuch, bei dem es um weit mehr als nur um Rezepte geht?

All das werde ich natürlich nicht erzählen. Aber so viel verrate ich noch: Es macht große Freude, Julien durch seine Kindheit und Jugend zu begleiten und darüber hinaus seine Familie, Freunde und Bekannte kennenzulernen.

Unaufgeregt, aber zügig und flott, feinfühlig und psychologisch stimmig und nachvollziehbar beschreibt Jacky Durand die inneren Prozesse und Handlungen seiner Protagonisten. Ich war voll dabei und mitten drin.

Einige unvorhergesehene Wendungen überraschen den Leser ganz plötzlich und machen das Werk auf diese Weise zusätzlich zu einem Schmankerl.

Ich empfehle diesen besonderen und berührenden Roman, der schon gut beginnt und immer besser wird, äußerst gerne weiter.

5/5

🇫🇷

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