Makkai, Rebecca: Die Optimisten

Zwei Geschichten werden erzählt und geschickt miteinander verwoben. Sie greifen ineinander, werden schließlich zu einer Geschichte und am Ende schließt man das über 600-seitige Werk mit einem zufriedenen Lächeln und der Gewissheit, ein interessantes, berührendes und unterhaltsames Buch gelesen zu haben, das man nicht so schnell vergessen wird.

Am einen Ende die Aids-Krise in Chicago (1980-er Jahre), am anderen Ende die Terroranschläge in Paris (2015).
Dazwischen Krankheit und Tod. Leben, Leidenschaft und Liebe. Freundschaft, Verbundenheit, Vergebung und Treue.

Die ganze Palette an Emotionen wird im Verlauf des Romans ausgelöst, aber zu keinem Zeitpunkt wird er kitschig oder rührselig.

Nach dem Öffnen des Buches landen wir auf einem „Leichenschmaus“. Aber nicht in einer Gaststätte, sondern im eleganten Brownstone-Haus von Richard in Chicago im November 1985.

Der väterliche, gut situierte, homosexuelle und talentierte Fotograf Richard hat eine Trauerfeier für die schwulen Bekannten und Freunde des vor drei Wochen an Aids verstorbenen, erst 25 Jahre alten Comiczeichners Nico organisiert.

Auf der offiziellen Trauermesse ist die schwule Community nicht erwünscht.

Neben dem 31-jährigen Yale und dem um 5 Jahre älteren Charlie, Nicos besten Freunden, ist auch Fiona, Nicos um vier Jahre jüngere Schwester, auf dem Fest bei Richard.
Diese fünf Personen, Fiona, Nico, Yale, Charlie und Richard, werden uns den ganzen Roman über begleiten.

Fiona und ihr verstorbener Bruder Nico waren eng miteinander verbunden.
Er wurde mit 15 Jahren von den Eltern verstoßen. Sie hat sich mit ihrem Bruder solidarisiert und ihm und ihren gemeinsamen Freunden bis zuletzt die Treue gehalten.

Yale und Charlie haben Nico am Sterbebett versprochen, sich um Fiona zu kümmern.
Ein Versprechen, das letztlich in umgekehrter Weise eingelöst wurde.

Alkohol, Drogen, Dia-Show… Eine feuchtfröhliche Party ist bei Richard im Gang. Genau so hätte es Nico gefallen.

Yale wird auf dem Fest von Erinnerungen und Wehmut übermannt und zieht sich in ein Schlafzimmer in der ersten Etage zurück, um innerlich zur Ruhe zu kommen.
Als er nach einiger Zeit wieder herunterkommt sind alle verschwunden. Das Haus ist wie ausgestorben.

Was ist da passiert?
Auf die Antwort müssen wir erst einmal warten, denn mit dem nächsten Kapitel gelangen wir ins Jahr 2015.

Die inzwischen 51-jährige Fiona ist Psychologin und Geschäftsführerin eines Gebrauchtwarenladens „mit Mission“: Mit Umsatz und Erlös setzt sich Fiona für Aids-Erkrankte ein – eine Lebensaufgabe in Erinnerung an all‘ ihre verstorbenen Freunde und Bekannte.

Im Moment befindet sie sich in einem Flugzeug nach Paris.
Sie will dort mit Hilfe eines Privatdetektivs ihre Tochter Claire suchen, die sich vor einigen Jahren einer Sekte angeschlossen hat.

Während ihres Aufenthalts wird sie bei Richard, dem mittlerweile 80-jährigen berühmten Fotografen, den wir bereits im ersten Kapitel kennengelernt haben und der damals die Trauerfeier für Fionas Bruder Nico organisiert hatte, wohnen.

Nach diesem Kapitel wechseln wir regelmäßig zwischen 1985 ff und 2015 hin und her.
Das Tolle dabei ist, dass jeder der beiden Erzählstränge interessant, unterhaltsam und packend ist und bewundernswert ist, wie die Autorin zwischen diesen beiden Ebenen eine Brücke schlägt.
Es wirkt mühelos und unaufgeregt, wie sie die beiden Zeitstränge durch Personen, Geschehnisse und Erinnerungen verbindet.

Wir lesen von den 1980-er Jahren, in denen das HIV-Virus zu grassieren und wüten begann und auch eine Bedrohung für Chicagos Schwulenszene wurde.
Wir tauchen in „Chicagos Aidskrise“ ein, lesen von Tests, fehlenden Behandlungsmöglichkeiten, persönlichen Schicksalen, Vorurteilen, Ausgrenzungen und Demonstrationen.
Mit rasanter Geschwindigkeit erkranken und sterben Infizierte. Die beängstigende Atmosphäre und die verunsicherte Grundstimmung erinnern an die momentane Bedrohung durch das Coronavirus. Ein Wiedererkennungseffekt, der gleichermaßen erschreckend wie faszinierend ist.

Wir erfahren etwas über Yales Alltag in der Galerie, für die er gerade eine wertvolle Gemäldesammlung ergattern will, über Charlies Arbeit als Herausgeber der Zeitung „Out Loud Chicago“, einer „Schwulenzeitung“, und über die Liebesbeziehung der beiden Männer, die immer wieder von Charlies ungerechtfertigter Eifersucht überschattet wird.

Die oben erwähnte wertvolle Gemäldesammlung stammt von Fionas und Nicos 90-jähriger Großtante Nora. Wir lernen aber nicht nur die faszinierende alte Dame, die einst Kunst studierte und bei berühmten Künstlern in Paris Modell saß, kennen, sondern auch Frank, ihren geldgierigen Sohn und Debra, ihre verwöhnte und übellaunige Enkelin, die beide mit der Spende nicht so ganz einverstanden sind.

Ob es Yale schließlich gelingen wird, die Sammlung für die Galerie zu gewinnen und ob Fiona ihre Tochter in Paris finden wird, erzähle ich hier natürlich nicht, aber diese Geschichten in der Geschichte sind spannend, verschaffen einen interessanten Einblick in einen wichtigen Bereich der Kunstszene und zeigen auf, wie schnell Missverständnisse entstehen können, wie leicht Beziehungen Risse bekommen können und wie schwierig, unsinnig und unmöglich es oft ist, Schuld zuzuweisen.

Rebecca Makkai schreibt empathisch, liebevoll, bewegend und ausdrucksstark.
Sie zeichnet authentische und lebendige Charaktere und verwendet dabei eine flüssig zu lesende und bildhafte Sprache mit wunderschönen Formulierungen und Metaphern.

Hier einige Kostproben:
„Normalerweise war er ein Gummiball aus kinetischer Energie…“ (Kindle, Pos. 219)

Toll formuliert, so wahr und auch zum Schmunzeln: „Als ich in ihrem Alter war, dachte ich, ab 50 würde es nur noch bergab gehen. Tja. Die Vorteile, die zur Altersdiskriminierung führen, sind die einzigen, die sich von selbst korrigieren, nicht wahr?“ (Kindle, Pos. 2285)

Welch schöne Metapher, um eine Infektionskette zu beschreiben: „Sie waren menschliche Dominosteine. Wie konnte er nicht wissen, dass er der nächste Dominostein in der Reihe war?“ (Kindle, Pos. 2594)

Mit dieser Formulierung kann man sich die Szene doch ganz genau vorstellen: „Er ließ sich auf einen Barhocker sinken, SCHÄLTE die Sohlen vom klebrigen Boden und bestellte einen Manhattan.“ (Kindle Pos. 4457)

Vielleicht überlegt sich der ein oder andere interessierte Leser skeptisch, dass er in einer real virusdominierten Welt nichts über ein anderes Virus lesen möchte, dass die Realität genug Schwere und Ernst bereithält und dass es gerade deshalb besonders bedeutsam ist, für ausgleichende Ablenkung und Unterhaltung zu sorgen.

Ich habe vor der Lektüre keine dieser Überlegungen angestellt, weil ich blind auf Elke Heidenreichs Empfehlung vertraute, die keine Details über den Inhalt verriet.

Jetzt, am Ende der Lektüre kann ich voller Überzeugung sagen, dass man den Roman auch bedenkenlos lesen kann, wenn man sich im Vorfeld diese Gedanken macht.

Es geht zwar um eine ernste und berührende Thematik, aber der Roman ist vielschichtig, abwechslungsreich und durchweg fesselnd, kurzweilig, interessant und unterhaltsam.
Makkai gelingt es, ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen Schwere und Leichtigkeit herzustellen.

An dieser Stelle macht es Sinn, auf den Titel des Romans zu verweisen. Er heißt nicht umsonst „Die Optimisten“ und verweist zurecht darauf, dass es hier trotz schwerer und ernster Grundthematik nicht um Ausweglosigkeit, Pessimismus und Depression geht.
Im Verlauf und vor allem gegen Ende des Romans wird klar, warum die Autorin gerade diesen Titel gewählt hat, der ein Gegengewicht zur mit dem Thema assoziierten Stimmung darstellt.

Ich flog durch die Seiten und bezeichne ihn gerne als absolut lesenswerten Pageturner.

5/5⭐️

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