Vigan de, Delphine: Loyalitäten

Schon der Beginn des Romans ist wunderbar: Eine äußerst differenzierte, bewegende und zum Nachdenken anregende Definition des Begriffs Loyalitäten. Sie war es wert, mehrmals gelesen und sogar vorgelesen zu werden. Sie regte zum Gedankenaustausch an, noch bevor das Buch überhaupt richtig begonnen hat.

Zum Inhalt möchte ich nicht allzu viel verraten. Es geht um den Jungen Théo, der zu einer letztendlich lebensbedrohlichen Strategie greift, um die ihn überfordernden und unter extremen Druck setzenden familiäre Probleme zu ertragen und es geht um eine Ehefrau und Mutter, die mit dem Doppelleben ihres Mannes konfrontiert wird. Beide Stränge sind raffiniert miteinander verknüpft, wobei die aufgrund eigener schmerzlicher Erfahrungen besonders aufmerksame Lehrerin von Théo eine wichtige Rolle spielt.

Delphine de Vigan verwendet eine einfache, leicht verständliche und gleichzeitig schöne Sprache, sowie Bilder und Metaphern, die ein lebendiges und buntes Szenario vor dem geistigen Auge entstehen lassen. Den allfreitäglichen Pflicht-Umzug Théos von der Mutter zum Vater beschreibt sie z. B. als Umzug von einer Welt in die andere, als Reise vom einen Ufer zum anderen – ohne Brücke und ohne Fährmann.

Durch die kurzen Kapitel, in denen jeweils die Sicht einer anderen Person im Mittelpunkt steht und die jeweils aus einer anderen Erzählperspektive geschrieben sind, wird der kurze Roman sehr abwechslungsreich und kurzweilig. Das schmale Buch ist ein packender Page Turner, der gegen Ende noch einmal mächtig an Fahrt aufnimmt. Die Spannung steigert sich. Ich fragte mich bis zuletzt: wie endet das bloß?!

Delphin de Vigan zeigt anschaulich, wie sehr Loyalitäts- und Solidaritätsgefühle hemmen können und wie unerträglich und gefährlich innere Konflikte sein können, die sich daraus ergeben.

Einen Kritikpunkt sehe ich darin, dass die Autorin diese kurze Geschichte mit dramatischen Themen überfrachtet. Sie packt sämtliche aktuelle und brisante Themen hinein, angefangen von der problematischen Seite des Hausfrauendaseins und der Schwierigkeit kinderloser Frauen über Schwierigkeiten von Kindern von getrennten Eltern bishin zu Gewalt, Alkohol und Rassismus.
Die Geschichte ist gespickt mit schweren Themen und trotzdem gelang es der Autorin, mich zu fesseln, so dass ich kaum so schnell blättern konnte, wie ich lesen wollte.

Man sollte sich in einer emotional stabilen und ausgeglichenen Lage befinden, um die ernste und schwere Thematik zu ertragen und man sollte Lust haben und Interesse verspüren, sich mit eben diesen Themen zu eben diesem Zeitpunkt zu beschäftigen.
Wenn beides gegeben ist, dann ist es eine, meines Erachtens, interessante, fesselnde und zum nachdenken anregende, wichtige Lektüre.
Ich empfehle sie gern weiter.

5/5⭐️

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.