Mosebach, Martin: Krass

Beeindruckt habe ich das Buch geschlossen. Was für eine besondere, kultivierte und auserlesene Sprache, welch‘ außergewöhnlicher Stil und welch‘ einnehmende Handlung.

Martin Mosebach ist ein äußerst gebildeter Wortakrobat, der mit Fremdwörtern und Neologismen nicht spart. Wörter wie „Indezenz“, „Sfumatura“ oder „Machination“ musste ich nachschlagen und Eigenkreationen wie „flirtistisch“ oder „mittelmeerisch“ ließen mich schmunzeln.

Die originell konstruierte Handlung um Herrn Krass, Doktor Jüngel und Lidewine Schoonemaker hat mich recht schnell gepackt, an Überraschungsmomenten hat es nicht gemangelt.

Vor allem gegen Ende häuften sich die Zufälle. Entweder man lässt sich wohlwollend und großzügig darauf ein oder man schüttelt ungläubig den Kopf. Mich störte es gar nicht. Im Gegenteil: Mir gefiel Mosebachs Einfallsreichtum.

Von den drei Hauptfiguren war mir keine sympathisch und kam mir keine nah. Mit keiner würde ich bekannt oder gar befreundet sein wollen.

Herr Krass ist ein selbstgefälliger, manipulativer und wohlhabender Geschäftsmann, der die Spielregeln vorgibt. Lange bleibt es völlig unklar, wodurch er an sein Geld kommt.

Im Folgenden ein paar Sätze, die diesen überheblichen, berechnenden und unempathischen Mann wunderbar skizzieren:„Denken Sie bei allem daran, dass meine Zeit kostbar ist, das Kostbarste, mit dem Sie in Berührung kommen. Alles andere ist nachgeordnet.“ (S. 22)

„Die Kraft eines Genies besteht darin, die Realität seinem Willen zu unterwerfen und nach seinem Willen zu formen.“ (S. 23).

„Zur Inbesitznahme eines Menschen gehörte immer auch, sich von ihm zu entfernen, unversehens weg zu sein, nachdem man schon die Enterhaken in dessen Herz geworfen hatte, und wiederzukommen, wenn der andere – die andere – es nicht mehr vermutete. Frau Krass, stets sprach er vor anderen so von ihr, war durch diese Schule gegangen, sie war darüber verrückt geworden…“ (S. 132f. )

Doktor Jüngel ist ein kriecherischer Kunsthistoriker, der Herrn Krass gegenüber allzu dienstfertig ist, jegliche Verantwortung abgibt und es im Laufe des Romans zum Professor bringt und Lidewine ist eine Frau, die im Hier und Jetzt lebt, stets auf ihren Vorteil bedacht ist und von Krass auserwählt wird, seine Begleiterin zu sein.

Martin Mosebach hat ein Händchen dafür, Landschaften, Örtlichkeiten und Menschen zu beschreiben. Durch sein unaufgeregtes Schreiben, seinen opulenten Stil und indem er sich viel Zeit beim Erzählen lässt, erwachen die einzelnen Szenen zum Leben.

Wie Mosebach z. B. ein Aquarium mit Langusten beschreibt (S. 78), ist einfach nur brillant und die mit leisem Humor gespickten Beobachtungen während eines Essens sind wunderbar (S. 85).

Durch seinen gleichermaßen distanzierten wie detaillierten Stil hat man das Gefühl, dem Geschehen ganz nahe, aber nicht mittendrin zu sein. Man ist ein Beobachter in unmittelbarer Nähe, dem nichts entgeht.

Jetzt aber erst einmal einige Sätze zur Handlung: Mit Beginn der Lektüre sitzen wir im November 1988 in einem Zuschauersaal in Neapel und beobachten auf der Bühne den Zauberkünstler Harry Renó, der blass, mit silbernem Haar und im Smoking seine Tricks zum Besten gibt. Lidewine Schoonemaker ist seine rechte Hand.

Kurze Zeit später erleben wir mit, wie der Mittdreißiger Herr Doktor Jüngel, der Guide und Übersetzer einer anspruchsvollen und eleganten achtköpfigen Gesellschaft, von seinem „furchterregenden Chef Herrn Krass“ (S. 11), der „bei aller Sonderbarkeit doch ein einzigartiger Mann“ ist (S. 29), getadelt wird, weil er die Gruppe versehentlich statt zur Aufführung eines neapolitanischen Volkstheaters in den oben erwähnten Illusionsabend geführt hat.

Dann schwenkt die Kamera wieder zu Harry Renó und seiner Assistentin, die am Morgen nach ihrem Auftritt in ein halbernstes Gespräch über Lidewines finanziellen Anspruch an der Gage vertieft sind.

Ihr anschließender Spaziergang und die Lust auf ein Gläschen Champagner führt Lidewine schließlich ins Hotel Excelsior, wo sie in der Bar auf das elitäre Grüppchen um den Mittfünfziger Herrn Krass trifft. In dieser illustren Gemeinschaft begeht die unbefangene und leichtlebige, vielleicht sogar berechnende Lidewine, die bereits leicht angetrunken ist, eine Unerhörtheit und trifft eine weitreichende und einschneidende Entscheidung – und Herr Krass, „ein enorm wohlhabender, international agierender Geschäftsmann“ (S. 68) lässt ihr über Herrn Doktor Jüngel ein krasses Angebot unterbreiten…

Auf den folgenden Seiten lesen wir, dass Lidewine mit ihrer ungenierten und dreisten Art die Regeln von Krass, so nennt sie ihn, nicht anerkennt. Dass sie ihn schließlich„Krasslein“ nennt und damit von seinem unantastbaren Thron stößt (S. 139), scheint der Gipfel der Unverfrorenheit zu sein.

Auf den ganzen großen Rest dieses Werks möchte ich inhaltlich nicht näher eingehen, weil ich niemandes Lesefreude mindern möchte.

Nur soviel: Die Idee, Jüngel erst Faxnachrichten und später ein Tagebuch verfassen zu lassen, ist abwechslungsreich und originell. Der Leser lernt auf diese Weise Jüngel besser kennen und erfährt aus einer anderen Perspektive Details über Herrn Krass und seine Gäste.

Die Geschichte, die sich über rund 20 Jahre erstreckt, führt uns von Neapel über die französische Provinz nach Kairo und wir erleben sowohl die Trennung als auch das erneute Zusammentreffen der Protagonisten mit.

Aufgrund meiner Faszination kann ich nicht umhin, noch einige Passagen zu zitieren, die mich beeindruckt haben. Es sind wunderbar anschauliche Beschreibungen und Bilder bzw. schöne und interessante, auch humorvolle Formulierungen.

„Gegenüber saß ein stämmiger Mann mit großen behaarten Pratzen, dickschwartiger bräunlicher Haut, eminenten Kinnbacken und verwirrend schmelzenden Augen, die jeden Menschen, ob Mann oder Frau mit anzüglicher Ironie anblickten.“ (S. 19)

„Immer neu verblüffend, wie schnell die Erscheinungen der Welt in wechselndem Licht ein anderes Aussehen annahmen, genau wie eben, da eine schneeweiße Wolke sich vor die Sonne schob und gegen das gleißende Licht dunkel wurde.“

„Ralf Krass vor einem Automaten – schon das eigentlich ein Unding. Wozu war man von der Natur verschwenderisch mit der Gabe der Autorität ausgerüstet worden, wenn man schließlich vor einem Apparat landete, der die menschliche Spreu und die echten Persönlichkeiten nicht auseinanderhielt und vor keinem durchdringenden Blick erbebte?“ (S. 358)

„Flucht wurde stets als etwas Schwächliches angesehen, als ein Weglaufen vor den Schwierigkeiten, als die Weigerung zu kämpfen. Gab es etwa eine Pflicht, jede übel gewürzte Suppe auszulöffeln, und hätte man sie sich auch selbst eingebrockt? Wer war denn die Instanz, die ein klagloses Ausharren im Unglück verlangen durfte? Heroismus – es war schön und gut, wenn kleine Leute an derlei glaubten, aber das war doch kein Maßstab für ihn. Widrige Verhältnisse verdienten, dass man ihnen den Rücken kehrte.“ (S. 413)

„Die Familien lösten sich nicht von einem der ihren, bloß weil er im Krankenhaus lag, sondern hingen an ihm wie Erdbrocken am Wurzelwerk einer Pflanze, die aus dem Boden gezogen wird.“ (S. 434)

Zwei weitere Aspekte gefielen mir: Mosebach kann nicht nur beschreiben und umschreiben, sondern auch treffsicher und unverblümt ausdrücken, was er meint. Ich denke da z. B. an das Wort „sodomisieren“.

Der Text ist in drei Kapitel unterteilt, die an verschiedenen Orten spielen. Die Überschriften dieser Kapitel sind allesamt aus dem Bereich der Musik und passen unglaublich gut zu dem, was dann folgt.

Zu guter Letzt möchte ich noch auf die abschätzig gemeinte Titulierung „Altherrenliteratur“ eingehen, die mir in einer Rezension begegnet ist. Ja, vielleicht könnte man die Lektüre aus der Feder des 70-jährigen Martin Mosebach als solche bezeichnen. Aber wenn ich das täte, hätte ich folgende Szene im Kopf:

Ein belesener, in sich ruhender, selbstbewusster, bedachter, lebenserfahrener und weitgereister alternder Mann mit Phantasie und Humor erzählt mir ohne jede Hast und in gewählter Sprache mit geistreichen und schönen Formulierungen und anschaulichen Bildern eine interessante und originelle Geschichte mit überraschenden Entwicklungen.

Ich fühlte mich nicht selten an die Sprache Thomas Manns in Buddenbrooks erinnert und diesen Roman kann ich nur als grandios bezeichnen.

Ich empfehle dieses Werk um den narzisstischen Unsympathen Krass allen Literaturliebhabern. Für mich ist „Krass“ ein literarisches Highlight. Ich musste bzw. wollte es bewusst langsam lesen, um nichts zu überlesen und in den vollen Genuss dieser Kunst zu kommen.

Ich konnte mich sowohl in die Sprache als auch in die Handlung fallen lassen und wünsche dem Buch viele Leser.

Schön war’s!

🇮🇹 🇫🇷 🇪🇬

5/5 ⭐️

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