Gleich vorab:
Ein absolut lesenswerter Roman! Ich bin begeistert. Mir fallen die Adjektive bravourös und exzellent dazu ein.
Während einer Mountainbiketour am „Ersten Ersten“ 2018 auf Lanzarote, in deren Verlauf sich Henning die Serpentinen zum Dorf Femés am Fuße des Vulkanberges Atalaya hochquält, drängen sich ihm Erinnerungen auf.
Anhand von Rückblenden lernen wir seine jetzige Familie (seine Ehefrau Theresa und ihre zwei kleinen Kinder), seine Ursprungsfamilie (seine Eltern und seine jüngere Schwester Luna) und einige Details aus seiner Biographie kennen.
Wir bekommen einen Einblick in den Alltag dieser vierköpfigen Familie, in der die Rollen nicht klassisch traditionell sondern emanzipiert modern verteilt sind. Außerdem werden wir eingeweiht in Entstehung und Verlauf von Hennings Panikstörung.
Schließlich tauchen, ausgelöst durch die Entdeckung eines Häuschens oberhalb von Femés und durch die Begegnung mit seiner deutschen Besitzerin Lisa bis dahin verdrängte erschütternde und traumatisierende Erinnerungen auf.
Juli Zeh beschreibt die Panikattacken, die Anstrengung auf dem Fahrrad und die Gedanken, die in Henning vorgehen eindrücklich und detailliert. Ich blätterte gefesselt und manchmal regelrecht atemlos um und wurde mitgerissen von den Wörtern und Sätzen, die die Welt Lanzarotes, das Innenleben Hennings und den Alltag dieser Familie zum Leben erweckten.
Juli Zeh seziert ihre Beobachtungen der Innen- und Außenwelt, so dass uns eindrückliche, lebensnahe, detaillierte und ungeschönte Beschreibungen präsentiert werden. Es ist ein sachlich nüchternes, fast kaltes und rationales Sezieren, das den Leser aufgrund der resultierenden Eindrücklichkeit erschüttert, fesselt und ihm manchmal den Atem raubt, weil er mitten drin zu sein glaubt.
In der ersten Hälfte des Romans erleben wir die recht schnellen Wechsel zwischen gegenwärtiger kräftezehrender Radtour und Rückblenden in die nähere oder weiter entferntere Vergangenheit.
Dann, ab der zweiten Hälfte tauchen wir schließlich in DIE entscheidende, z. T. quälende, erschütternde und kaum auszuhaltende Erinnerung ein und ab.
Dabei begegnen wir wunderschönen ausdrucksstarken und bildhaften Sätzen wie zum Beispiel: „Die Scham darüber landet auf seinem Nacken und fliegt gleich wieder davon, wie ein Insekt, das sich entschieden hat, doch jemand anderen zu stechen.“
Im letzter Abschnitt kehren wir wieder in die Gegenwart zurück. Der Urlaub ist vorbei. Die Familie ist wieder zu Hause in Göttingen. Aber es geht nach dieser einschneidenden Erfahrung auf Lanzarote noch etwas weiter:
Ein Telefonat.
Ein aufklärendes Geständnis. Eine Erkenntnis.
Eine notwendige Konsequenz.
Juli Zeh verdeutlicht mit ihrem packenden Roman „Neujahr“ ganz wunderbar die erlösende und befreiende Kraft von Erinnern und Auseinandersetzung mit dem Erinnerten.
Sie zeigt auf, wie dadurch Erkenntnis und Veränderung möglich werden.
Wunderschön gezeigt hat sie auch, dass eine psychische Beschwerdesymptomatik durch Umstände ausgelöst werden kann, die das im Unbewussten schlummernde Vergangene ins Bewusstsein katapultieren (im vorliegenden Roman sind es Hennings Kinder, die gerade im entscheidenden Alter sind.)
Allerdings ist es etwas zu optimistisch, zu glauben, dass dies alles, also die Verarbeitung des kindlichen Traumas und der Verlust der ausgeprägten Symptomatik, so schnell und ohne professionelle Hilfe vonstatten gehen kann.
Erinnern allein reicht da in der Regel nicht. Durcharbeiten ist für Verarbeiten, Verdauen und Heilung unabdingbar. Und das geschieht am ehesten mit einer fundierten psychotherapeutischen Unterstützung.
(Aber das Leben geht für Henning ja nach dem letzten Zuklappen des Buches noch weiter 😉 vielleicht sucht er sich ja noch Hilfe.)
5/5⭐️