Mit Aufklappen des Buches befinden wir uns im Jahr 2002 in einem Asylantenwohnheim in der Schweiz.
Gleich in der ersten Szene lernen wir den verblüfften und skeptischen irakischen Flüchtling Usama Al Shahmani kennen, der wegen der Diktatur und dem religiösen Terror aus seiner Heimatstadt Bagdad geflohen ist und mitten im Asylverfahren steckt.
Warum der Literaturwissenschaftler Usama, der sowohl Autor als auch Ich-Erzähler dieser autobiographischen Geschichte ist, so verwundert reagiert?
Weil er erstmals mit dem Zeitvertreib des Wanderns konfrontiert wird, einer Betätigung, die angeblich Freude bereitet, in der Schweiz üblich und alltäglich ist und für die es in seiner Sprache nicht einmal ein Wort gibt.
Die Sache geht ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er wird neugierig und probiert es aus.
In einem Wald, umgeben von Bäumen, erinnert er sich an seine liebevolle Großmutter, an eine selbstbewusste Professorin, denkt er an Wurzeln und Herkunft und macht er eine überwältigende Erfahrung von Zugehörigkeit, Liebe, Heimat und Freiheit.
Im weiteren Verlauf erleben wir mit, dass es alles andere als einfach ist, auf sich allein gestellt in einem fremden fernen Land ein neues Leben aufzubauen. Die Enge der Unterkunft, die zermürbende Arbeitssuche, die Sprache, die Formalitäten, die Sehnsucht nach der Heimat. All‘ das muss erst einmal verdaut werden.
Trost, Kraft, Zuversicht und ein Gefühl von Sicherheit findet er in der Natur… im Wald, bei Bäumen und auf Wanderungen 😂
Usama findet eine provisorische Stelle als Hilfsarbeiter bei einem alleinstehenden älteren, freundlichen und großzügigen Herrn, dem er im Garten und bei alltäglichen Aufgaben zur Hand geht, er gibt einigen Schweizern Arabischunterricht und trägt Werbeflyer für einen unzuverlässigen Pizzeriabetreiber aus, der ihn letztlich nur ausnutzt.
Arbeitsbewilligung und Festanstellung lassen aber auf sich warten.
Mit seinem jüngeren Bruder Ali, der in Bagdad lebt, steht er in recht regelmäßigem Kontakt. Trotz des Bürgerkriegs und entgegen dem Rat seiner Familie weigert Ali sich vehement, diese Stadt voller tödlicher Gefahren zu verlassen und in den sichereren Süden zu den Eltern zu gehen. Wenn überhaupt, dann solle Usama ihm helfen, nach Beirut zu fliehen. Aber wie und woher soll Usama die zweitausend Dollar für die Flucht aufbringen?
Eines Tages im April 2006 passiert das fast gleichermaßen Erwartete wie Unfassbare und Schreckliche:
Ali verschwindet spurlos…
Es ist interessant, spannend und kurzweilig, Usama abwechselnd in seinem neuen, oft schwierigen und manchmal freudigen Alltag in der Schweiz zu begleiten, von manch’ herzerwärmender oder auch leidvollen Erfahrung zu lesen und seinen wehmütigen wie freudvollen Erinnerungen und Gedanken zu lauschen, durch die man nicht nur sein Innenleben, sondern auch seine Familie und seine Heimat, den Irak, besser kennen lernt.
Wenn er von der imaginären Mauer zwischen sich und den Anderen spricht und darin Fenster und Lücken erkennt, freut man sich mit ihm über diese vielversprechende Entwicklung.
Es ist so gut nachvollziehbar, dass er am Fluß Aare Ruhe und bei den Bäumen Hoffnung findet.
Durch die Gespräche mit seinem eher skeptischen, kritischen und konservativen Freund Bilal, der ebenfalls als Flüchtling im Asylantenwohnheim untergekommen ist und durch die Unterhaltungen mit dem 70-jährigen Witwer, dem er ab und zu zur Hand geht und mit dem er sich anfreundet, werden viele interessante und positive wie negative Aspekte der Flucht, des Alten und des Neuen beleuchtet. Usama selbst ist dabei immer sehr offen, aufgeschlossen, neugierig und optimistisch. Aus Briefen von seinem Bruder Ali erfährt man von den damaligen schlimmen Zuständen in Bagdad.
Besonders interessant sind auch die Gegenüberstellungen von bestimmten Gewohnheiten, die im Irak auf die eine und im Westen auf die andere Weise gelebt werden.
Dass sogar Telefongespräche üblicherweise anders verlaufen, hätte ich nicht unbedingt vermutet und über die unterschiedliche Altpapierverwertung habe ich mir vor der Lektüre noch keine Gedanken gemacht.
Aber hier, in diesem schmalen Bändchen befasst man sich damit, erfährt man davon und das finde ich bereichernd.
Es sind nicht nur die großen und häufig schon bekannten Andersartigkeiten, von denen man erfährt, sondern eben auch von diesen kleinen, feinen, alltäglichen aber eben auch bedeutungsvollen Dingen.
Wie interessant ist es beispielsweise, zu lesen, dass viele irakische Mütter die Nabelschnur ihrer neugeborenen Söhne an den Ast einer Fichte, dem Baum der Rückkehr, hängen, damit sie nie für immer fernbleiben.
Es ist hochinteressant, etwas von dieser so fremden arabischen Kultur zu erfahren und sich offen und neugierig auf sie einzulassen und es ist erschütternd und beklemmend, von den Gräueltaten des Saddam-Regimes und den Schrecken des Bürgerkriegs im Irak zu lesen.
Usama Al Shahmani schreibt en passant über die Position der Frau und die Bedeutung von Granatapfelbäumen. Er geht ganz nebenbei auf unterschiedliche Gewohnheiten und Gepflogenheiten ein und streift Sitten und Bräuche, Legenden, Sagen, Überlieferungen und abergläubische Überzeugungen.
Ich habe beispielsweise noch nie davon gehört, dass die Frau das letzte Wort im Haus haben wird, wenn sie in der Hochzeitsnacht ihren Fuß mit etwas Druck auf den rechten Fuß ihres Bräutigams legt.
Der Autor erzählt feinfühlig, poetisch, berührend und voller Respekt und Menschlichkeit. Trotz aller Ernsthaftigkeit der Thematik und Härte seiner Erlebnisse sind neben einer gewissen Melancholie, Sehnsucht und Wehmut seine zuversichtliche, offene, tolerante und menschenliebende Haltung und positive Lebenseinstellung durchgehend spürbar.
Usama Al Shahmani erzählt diese persönliche Geschichte flüssig, leichtfüßig und lebendig und würzt sie ab und zu mit amüsanten Anekdoten und häufig mit wunderschönen Formulierungen, Bildern, Vergleichen und Metaphern.
Er vermittelt die jeweilige Atmosphäre und die verschiedenen Stimmungen sehr deutlich, so dass man das Hoffnungsvolle und Optimistische, das Nachdenkliche, Wehmütige, Melancholische, Beklemmende oder Ernüchternde hautnah miterlebt.
Ich kann nicht umhin, zwei wunderschöne bildhafte Formulierungen zu zitieren:
„Manche Tage sind fad und langweilig. Sie ähneln einem Essen, das in Eile zubereitet wird, und egal, wie viel Gewürze man hinzu gibt, es ist nicht mehr zu retten.“ (S. 157)
„Aber nicht selten war meine Mutter orientierungslos wie jemand, der in einen finsteren Raum kommt und die ganze Nacht damit verbringt, den Lichtschalter zu suchen, den es gar nicht gibt.“ (S. 179)
Jetzt „muss“ ich Euch noch eine herzerwärmende Anekdote zum Schmunzeln verraten:
Die Großmutter des Erzählers setzte sich Ende der Siebzigerjahre mit einem Kopftuch vor den laufenden nagelneuen Fernseher. Als seine Tante die Großmutter fragte, wieso sie das tue, meinte diese, vor fremden Männern müsse sie als Muslimin ein Kopftuch tragen. (S. 174)
Und zu guter Letzt noch ein wunderschönes arabisches Sprichwort, das der Erzähler auf Seite 183 zitiert:
„Wer Honig gewinnen will, muss mit Bienenstichen rechnen.“
In diesem Sinne 😉:
Wer ein intensives und außergewöhnliches Lesevergnügen mit einem berührenden, beruhigenden und versöhnlichen Ende erleben möchte, der muss „In der Fremde sprechen die Bäume arabisch“ von Usama Al Shahmani lesen.
5/5⭐️
🇨🇭 🇮🇶