Atwood, Margaret: Katzenauge

In dem 509 Seiten langen Roman (Taschenbuch) von Margaret Atwood geht es um Elaine, eine Malerin in mittleren Jahren, die anlässlich einer Retrospektive in ihre ehemalige Heimat Toronto, zurückkehrt.

Eine Rückkehr und eine Retrospektive, die ihr helfen, sich zu erinnern und Erlebtes zu verarbeiten.

Eine Rückkehr und eine Retrospektive, die notwendig sind, um abschließen und voranschreiten zu können.

Toronto ist die Stadt, in der Elaine als kleines Mädchen von 8 Jahren mit ihren Eltern und ihrem Bruder Stephen nach Jahren des wohnsitzlosen Herumziehens sesshaft geworden und aufgewachsen ist.

Die Zeitebenen wechseln sich im Roman ab und nähern sich immer mehr an. Mal befinden wir uns in den Nachkriegsjahren des 2. Weltkrieges, mal im Hier und Jetzt.

Wir erleben Elaine, wie sie als erwachsene Frau durch die Straßen Torontos schlendert, wie sie Orte ihrer Vergangenheit aufsucht, wie sie in der Galerie Gespräche führt, wie sie ihrem ersten Ehemann Jon wieder begegnet und wie sie sich an ihre Kindheit und Jugend sowie vor allem an ihre damalige „Freundin“ Cordelia erinnert.

Und wir begleiten Elaine durch einige Jahre ihrer späten Kindheit und Teenagerzeit hindurch und erleben, wie sie von ihren „Freundinnen“, vor allem von Cordelia, psychisch gequält wird, was sie nachhaltig und dauerhaft prägt.

Spannend ist, dass diese Rückblenden nicht in der Vergangenheitsform, sondern im Präsens und in der Ich-Perspektive erzählt werden:
Elaine erinnert sich nicht nur, sondern sie taucht ein und erlebt das Vergangene aufs Neue.
Etwas erneut zu durchleben, hat eine ganz andere Intensität, als sich nur zu erinnern. Es ist ein Ausdruck dafür, wie gewichtig und schwerwiegend das Erlebte war und es hilft bei dessen Verarbeitung.
Ein meisterlicher Kniff der Autorin, die es auf diese Weise schafft, die Intensität und Brisanz zu steigern.

Sie schafft es außerdem bravourös, Atmosphäre zu schaffen und zu vermitteln sowie Emotionen beim Leser auszulösen:
Wiedererkennungsfreude, Mitgefühl, Empörung oder Erschaudern.

Margaret Atwood erzählt unaufgeregt und gemächlich, beschreibt sehr (manchmal ZU) ausführlich, detailliert und bildhaft.
Es gelingt mühelos, sich vorzustellen, wovon sie schreibt. Vor dem geistigen Auge lebt auf, wovon sie uns erzählt.

Zahlreiche Vergleiche, Metaphern und zweideutige Aussagen komplettieren den wundervollen Stil der Autorin.

Es geht um Mobbing, Macht und Ohnmacht sowie deren Folgen.
Der Roman zeigt letztlich eine Möglichkeit auf, wie diese Folgen bewältigt werden können: Durch Konfrontation und Auseinandersetzung mit dem Erlebten. Der Schmerz schwindet, Wehmut bleibt zurück.

Interessant sind die Einblicke in die Jahre der Nachkriegszeit, in den konservativen kanadischen Alltag, die feministische Strömung und die Kunstszene dieser Zeit.
Interessant, aber für meinen Geschmack stellenweise zu ausführlich.

Margaret Atwood beschreibt die Charaktere und deren Entwicklung wunderbar und glaubhaft.

Der Roman ist psychologisch durchdacht, ausgefeilt und in sich stimmig.

Er ist wunderbar geschrieben, äußerst interessant zu lesen und zu analysieren, aber trotzdem kann ich nur 4 von 5 Punkten vergeben, weil mich die Geschichte nicht fesselte. Sie übte keinen Sog auf mich aus; der Roman war kein Pageturner.

Eines ist aber sicher: Von dieser klugen und m. E. begnadeten Autorin werde ich noch mehr lesen.

4/5⭐️

2 Gedanken zu “Atwood, Margaret: Katzenauge

  1. Der „Report der Magd“ war für mich ein Pageturner. Ich hatte mich lange gefürchtet vor der Lektüre, nachdem ich es gewagt hatte kann ich nur bestätigen, dass die lobenden Kommentare berechtigt sind. Die Verfilmung dagegen war für mich beängstigend. Sehr viel Spaß hatte ich auch mit Hexensaat. Eine für mich gut gelungene Adaption von Shakespeares „Der Sturm“.

    1. Mit dem „Report der Magd“ (als Roman) ging es mir genauso. Ich habe ihn verschlungen. Der zweite Teil „Die Zeuginnen“ wartet auch schon im Regal.
      Die Verfilmung der Magd mochte ich auch. Aber sie kam, finde ich, nicht an den Roman heran. Und ich empfand die Stimmung auch als bedrohlich, beängstigend und unheilvoll. Aber das passt ja auch haargenau zum Inhalt.
      Über „Hexensaat“ habe ich auch schon viele lobende Worte gehört.
      Ich finde, dass Margaret Atwood eine beeindruckende Frau ist.
      Ach, wenn man doch nur mehr Zeit hätte!
      Herzliche Grüße,
      Susanne

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