Ein schmerzliches und bedrückendes Stück Geschichte – interessant, berührend und unterhaltsam verpackt: Faschismus, Nationalsozialismus, ein Staudamm-Projekt, ein versinkendes Dorf und der Verlust eines Kindes.
Der 288 Seiten lange Roman spielt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Graun im Vinschgau, eine kleine Gemeinde in Südtirol am Länderdreieck Italien, Österreich, Schweiz.
Es sind die Zeilen einer Mutter an ihre Tochter. Die Ich-Erzählerin Trina, eine ehemalige Lehrerin, bringt ihre Erinnerungen und Gedanken zu Papier.
Sie erzählt von ihrer Jugend mit ihren Freundinnen Maja und Barbara und wie sie sich in den Bauern Erich verliebte, den sie später heiratete und der der Vater ihrer beiden Kinder Michael und Marica wurde.
Trina erinnert sich an die einschneidenden Veränderungen, Zerstörungen und Verwüstungen durch die Faschisten unter Mussolini in den 1920er Jahren, durch die sich das ruhige Leben in den deutschsprachigen Grenztälern massiv verändert hat.
Straßen, Bäche, Berge und Grabinschriften wurden ins Italienische umbenannt. Deutsch zu sprechen wurde verboten. Alles musste italienisch werden, obwohl bis dahin italienisch in Südtirol eine nahezu exotische Sprache und Kultur war.
Trotz ihres abgeschlossenen Lehramtsstudiums werden Trina und ihren Freundinnen Anstellungen als Lehrerinnen verwehrt. Den „richtigen Italienern“ wird auf dem Arbeitsmarkt der Vorzug gegeben.
Sie beginnen abends heimlich zu unterrichten, was ein höchst gefährliches Unterfangen ist, und bringen den Kindern, die tagsüber in die italienische Schule gehen müssen, Lesen und Schreiben bei. In Deutsch!
Und dann greifen die Faschisten, die immer gewalttätiger und extremer werden, den seit Jahren im Raum stehenden Plan auf, einen Staudamm zu bauen, für dessen Verwirklichung Graun und der Nachbarort im Weg stehen. Ein Plan, der die Bewohner erschüttert, denn sie müssten umziehen oder auswandern, damit das Gebiet des Vinschgau überflutet und die Strömung des Flusses zur Energiegewinnung genutzt werden könnte.
Die Gefahr der Zwangsenteignung steht im Raum.
Aus anfänglicher Wut über das faschistische Regime wird Melancholie und Resignation. Der Kampf ums Überleben beginnt und die Hoffnung, dass Hitler die Bewohner von Mussolini befreit, wächst.Die Ernüchterung lässt nicht lange auf sich warten. Der zweite Weltkrieg trifft auch Trina und ihre Familie hart…
Trina erinnert sich auch an die Jahre mit ihrer Tochter Marica und erzählt zärtlich von dieser Zeit.
In dieser turbulenten Phase ziehen Anita und Lorenz Erichs Schwester und ihr Mann, in den Ort. Die beiden sind kinderlos und haben einen Narren an Marica gefressen. Das Mädchen verbringt viel Zeit bei Tante und Onkel, die sie nach Strich und Faden verwöhnen.
Als eines Tages Trina ihre 11-jährige Tochter dort abholen möchte, trifft sie auf ein leeres Haus…
Trotz oder vielleicht sogar wegen des nüchternen und melancholischen Tonfalls werden die Protagonisten lebendig und man sieht das Erzählte vor sich:
den Ort, die Landschaft, die Personen.
Mit kraftvoller, schnörkelloser, einnehmender, eindrücklicher Sprache und präzisen Formulierungen vermittelt die Autorin die zunehmend bedrückende Atmosphäre und ein immer gefährlicheres Klima.
Interessant und neuartig war für mich, das Kriegsgeschehen literarisch aus einer ganz anderen, ungewohnten Perspektive zu erleben und eine ganz besondere und neue Leseerfahrung war diese unmittelbare Verknüpfung der Themen Faschismus und Nationalsozialismus.
Der Roman begeisterte mich und ist unbedingt lesenswert!
Aus Buchreport im Juli 2020:
Das Cover von Marco Balzanos Roman „Ich bleibe hier“ zeigt den versunkenen Kirchturm im Südtiroler Reschensee. Die düstere Geschichte der heutigen Touristenattraktion greift der Autor in seinem neuen Roman auf: Entstanden war der Stausee 1950 durch eine Flutung des Dorfes Graun sowie eines Großteils des Dorfes Reschen. Die damalige faschistische Führung wollte den See zur Energiegewinnung nutzen und zerstörte damit die Lebensgrundlage vieler Dorfbewohner.
5/5⭐️
Ein beeindruckender Roman über das Staudammprojekt und die Geschichte Südtirols. Ein bewegender Roman über den Verlust geliebter Menschen, der Heimat und den nackten Kampf ums Überleben.
Wer an der Geschichte Südtirols interessiert ist, dem sei auch der Roman „Eva schläft“ von Francesca Melandri ans Herz gelegt.
Hallo Du Liebe,
wie schön, dass Du den Roman gelesen hast und dass er Dir auch gefallen hat.
„Eva schläft“ steht bei mir auch im Regal. Danke für den Tipp! Für die Erinnerung!
Wenn der Tag doch nur 30 Stunden hätte!
Herzliche Grüße und lass es dir gut gehen,
Susi💐