Christie, Michael: Das Flüstern der Bäume

Zunächst möchte ich erwähnen, dass das Buch wunderschön gestaltet ist. Das in Naturtönen gehaltene Cover mit der ruhigen, friedlichen und weiten Landschaft machte mich sofort neugierig. Auf dem orangen Vorsatzpapier sind weiße Skizzen einzelner Ahornblätter, dann folgt ein Schwarz-Weiß-Bild von einer Baumscheibe mit Jahresringen und am Anfang eines jeden Kapitels nach einem Zeitsprung ist jeweils die Skizze eines Baumes und eines Astes mit Ahornblättern. Schön, schlicht und elegant.

Mich beeindruckt nicht nur diese wunderschöne äußere Gestaltung. Auch die Idee des Autors, was seine Erzähltechnik, sowie die Struktur und den Aufbau des Romans anbelangt, gefallen mir. Michael Christie stellt eine Analogie zum Querschnitt des am Anfang des Buches abgebildeten Baumstamms her. Ausgehend von der Zukunft, dem äußersten Jahresring, geht der Autor kapitelweise und in großen Sprüngen um Jahrzehnte zurück bis zum Inneren des Querschnitts, um sich anschließend wieder zur äußersten Schicht hin zu bewegen. Auf diese Weise erzählt er die 130-jährige Geschichte der Familie Greenwood und beleuchtet abwechselnd die verschiedenen Figuren.

Schritt für Schritt werden dem Leser so auf originelle, kurzweilige und abwechslungsreiche Weise die verschiedenen Generationen nahe gebracht. Fragen tauchen auf. Rätsel stellen sich. Spannung wird erzeugt. Vieles wird beantwortet, manches bleibt offen.

Wir reisen zunächst ins Jahr 2038 und begeben uns nach Greenwood Island, „einer abgelegenen bewaldeten Insel vor der Pazifikküste der kanadischen Provinz British Columbia“ (S. 13). Auf dieser baumreichen Insel ist es noch möglich, frische und saubere Luft zu atmen, was auf dem Festland längst undenkbar geworden ist, weil die Atemluft dort aufgrund von Baumsterben, genannt „das große Welken“, überwiegend aus toxischem Feindstaub besteht, was Krankheiten und erschwerte Lebensbedingungen nach sich zieht.

Greenwood-Island ist aber weit mehr als irgendeine idyllische Insel, auf der man noch gesunde Zeit in unbefleckter Natur erleben kann. Die Insel wurde von einem Geldhai und dessen Firma Holtcorp zu einem Luxus-Freizeitrefugium für Reiche gemacht.

Die promovierte Botanikerin Jake Greenwood arbeitet hier seit neun Jahren als Waldführerin. Sie erklärt den wohlhabenden und oft prominenten sogenannten Pilgern, die für ihren Ausflug exorbitante Summen bezahlen und zum „Waldbaden“ kommen, ökologische Zusammenhänge und zeigt ihnen uralte Riesenbäume und einen der letzten verbliebenen Primärwälder. Die familienlose Jake schätzt ihren Arbeitsplatz trotz der strengen Regularien, weil sie durch ihn ihren geliebten Bäumen nahe ist, in einem gesunden Umfeld leben und ihren Schuldenberg abtragen kann. Als nun eines Tages ihr Ex-Verlobter Silas, ein Jurist, auf die Insel kommt und mit einem sehr alten Tagebuch berechtigte Hoffnungen in ihr weckt, ihrer eigenen Familiengeschichte auf die Schliche zu kommen und ein Vermögen zu erben, das ihre Schulden im Nu verschwinden lassen könnte, gerät ihr eingespielter Alltag aus dem Trott. Und als sie dann auch noch Anzeichen eines pilzbedingten Baumsterbens – des auch hier beginnenden großen Welkens? – auf der Insel entdeckt, ist nichts mehr so, wie es vorher war.

Im weiteren Verlauf der Lektüre lernen wir Jakes Vorfahren kennen. Wir erfahren, auf welche Weise Harris und Everett durch ein Zugunglück zu Brüdern wurden, was den Beginn der Familie Greenwood im Jahr 1908 darstellte. Während Harris Greenwood 1919 ein Holzunternehmen gründete und mit der Zeit ein wohlhabender und einflussreicher Holzbaron wurde, ging es mit Everett nach dem Krieg bergab und schließlich musste er aus für den Leser zunächst unklaren Gründen eine 38-jährige Haftstrafe verbüßen. Harris‘ Tochter Willow wurde zu einer extremen Umweltaktivistin, die ihren Sohn Liam zu einer Kindheit in Armut und auf Rädern verdammte, weil sie sich dafür entschied, mit ihm in einem Camping-Bus zu leben und ihr ganzes geerbtes Vermögen einer gemeinnützigen Umweltorganisation zu spenden. Aus Liam wurde schließlich ein Schreiner, der mit Leidenschaft und Erfolg Renovierungen an Luxusobjekten durchführte. Eines Tages lernte er Meena kennen und die beiden bekamen eine Tochter: Jake. Leider wurde Jake schon jung eine Vollwaise und wuchs bei ihren Großeltern auf.

Soviel zum Plot, der durchgehend interessant und fesselnd ist.

Leider kann ich nicht umhin, einzuräumen, dass der Roman stark begonnen und dann für meinen Geschmack tendenziell doch ziemlich nachgelassen hat.

Zu Beginn erfreute ich mich an einigen wunderschönen und bildhaften Formulierungen.

„Liam staunt immer wieder aufs Neue, wenn sie Hunderte von Pfifferlingen finden, ganze Orchester gelber Miniaturtrompeten, die zwischen den Wurzeln der Bäume aufragen.“ (S. 66)

„Er hat seine Vergangenheit immer als einen riesigen Wohnwagen betrachtet, den er hinter sich herzieht und der ihn überrollen wird, wenn er es wagt, stehen zu bleiben.“ (S. 73)

Mit der Zeit stolperte ich aber zunehmend über Metaphern, die mich nicht mehr ansprachen, weil sie in meinen Ohren überspitzt klangen.

Sätze wie „Er konnte die verschiedenen Baumarten allein an der Musik ihrer Blätter unterscheiden.“ (S. 269) sind mir einfach zu weit hergeholt.

Während ich am Anfang die Einfälle des Autors als plausibel, die Figuren als vielschichtig und authentisch, deren Psychodynamik als psychologisch stimmig und deren Handlungen als nachvollziehbar betrachtete, reagierte ich gegen Ende immer wieder verblüfft, weil ich so manches nicht mehr als realistisch und glaubhaft einstufen konnte, weil ich manches als widersprüchlich erlebte und weil sich die Zufälle häuften.

Trotz dieser Entwicklung möchte ich betonen, dass meine anfängliche Begeisterung zwar gedämpft, meine Leselust und Neugierde jedoch kaum gebremst wurden und dass ich mich durchweg gut unterhalten gefühlt habe.

Wenn man sich entscheidet, diesen Roman, der manchmal etwas Märchenhaftes hat und stellenweise sogar an Mark Twain oder Dickens erinnert, zu lesen, dann sollte man sich gleichzeitig dafür entscheiden, dass man, sofern vorhanden, seinen hohen literarischen Anspruch und seine Tendenz zur kritischen Realitätsprüfung beiseite schieben und sich einfach auf eine spannende und unterhaltsame Geschichte einlassen sollte.

Ich empfehle diese originell konstruierte Familiengeschichte mit ihrer interessanten Grundidee, ihren zahlreichen Überraschungen und unerwarteten Wendungen all denjenigen, die sich gelassen und entspannt vor dem Kamin, auf dem Sofa oder in der Hängematte in eine interessante und packende Welt entführen lassen möchten und die auch mal ein Auge zudrücken können, wenn die Fantasie mit dem Autor durchgeht. Ich könnte mir vorstellen, dass genau dieser ungebremste Einfallsreichtum manchen Lesern ja auch gerade gefällt. Es muss ja in Büchern vielleicht gar nicht immer realistisch zugehen.

Ich denke, um den Roman, der gleichzeitig Roadmovie, Dystopie, Verbrecherjagd, Abenteuerroman, historischer Roman, Familiengeschichte und Unterhaltungsroman ist, genießen zu können, muss man ggf. tatsächlich seine Herangehensweise ändern und Plot und Unterhaltungswert statt literarische und poetische Qualität fokussieren.

Es ist nämlich schon toll, wie es Michael Christie schafft, den Leser bei der Stange zu halten. Für mich gab es bis zuletzt keine Langeweile.

„Das Flüstern der Bäume“ will meines Erachtens keine Plausibilitätsprüfung bestehen, sondern unterhalten, eine ökologische Botschaft vermittelten und an unser Umweltbewusstsein appellieren.

3/5⭐️

🇨🇦

2 Gedanken zu “Christie, Michael: Das Flüstern der Bäume

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