Boyle, T. C.: Sprich mit mir

T. C. Boyle hat mit „Sprich mit mir“ eine eindrucksvolle und außergewöhnliche Geschichte komponiert, die nicht nur wunderbar unterhält, sondern zum Nachdenken anregt und ein interessantes und wichtiges Thema aufgreift, das die Menschheit schon seit Jahrzehnten, wenn nicht gar Jahrhunderten umtreibt.

Es geht um das Verhältnis zwischen Mensch und Tier, genauer gesagt zwischen Menschen und den ihnen verwandten Schimpansen, und auch darum, wieviel Menschliches im Tier und wieviel Tierisches im Menschen steckt.

Wo sind Parallelen, Überlappungen, Unterschiede? Sind sich Tiere ihrer selbst bewusst?Haben sie Werte und eine Vorstellung von Moral, Ethik oder gar Religion? Können sie Zukünftiges antizipieren, ihr Handeln planen oder eine Sprache erlernen und damit Gefühle ausdrücken? Ist es möglich sich mit einer anderen Spezies zu unterhalten? Wie laufen die mentalen Prozesse in Vertretern einer anderen Spezies ab? Müssen die Grenzen der Forschung enger gesteckt werden oder ist im Namen der Wissenschaft (fast) alles erlaubt? Ist der Mensch den Tieren überlegen? Darf er sie in seinem größenwahnsinnigen, egozentrischen und anmaßenden Allmachtsstreben beherrschen und unterwerfen? Sollte man sie nicht lieber in ihrem gewohnten und natürlichen Lebensraum belassen und sind sie nicht letztendlich instinktgeleitete, gefährliche, unkontrollierbare und unberechenbare Wesen, die ein Recht auf ihre Freiheit haben?

T. C. Boyle wirft zwischen den Zeilen und völlig unaufdringlich all diese Fragen auf, indem er uns die fesselnde Geschichte des Schimpansen Sam erzählt.

Die 21-jährige Aimee ist eine hübsche und introvertierte Studentin, die in einem Studentenwohnheim an der kalifornischen Küste wohnt und das Gefühl hat, auf der Stelle zu treten. Ihren Alltag aus Lernen und Arbeiten findet sie bisweilen recht eintönig und manchmal fragt sie sich, ob ihr Streben nach einem Studienabschluss überhaupt von Erfolgt gekrönt sein wird. Beim Zappen durch die TV-Kanäle bleibt sie eines Tages in einer Gameshow hängen. Der 32-jährige erfolgsorientierte, selbstbewusste, sympathische und charismatische Wissenschaftler Dr. Guy Schermerhorn erregt ihre Aufmerksamkeit, weil er behauptet, er könne Affen zum Sprechen bringen. Als er auf der Bühne mit seinem zweijährigen zutraulichen Schimpansen Sam mit Hilfe von raschen Fingerbewegungen und flinken Gesten kommuniziert, ist es um Aimee geschehen. Wie gebannt hängt sie am Bildschirm und die Vorstellung davon, sich mit Hilfe der Gebärdensprache mit Angehörigen einer anderen Spezies unterhalten zu können, fasziniert sie. Sie findet heraus, dass Dr. Schermerhorn, der ihr schon in der Sendung irgendwie bekannt vorkam, an ihrer Universität als Privatdozent für Psychologie und gleichzeitig in einem Primatenforschungsprogramm von Dr. Moncrief, dem offiziellen Eigentümer von Sam, tätig ist. Im Rahmen dieses Projekts soll die Aufzucht von Schimpansen in menschlicher Umgebung erforscht werden. Als Aimee am Schwarzen Brett einen Zettel hängen sieht, auf dem zu lesen ist, dass Dr. Schermerhorn eine studentische Hilfskraft sucht, die sich um Sam kümmert, nimmt sie postwendend Kontakt mit ihm auf. Dr. Schermerhorn lädt sie zu einem Bewerbungstreffen zu sich nach Hause ein, um letztlich Sam selbst darüber entscheiden zu lassen, ob Aimee seine „Affensitterin“ sein darf. Bereits bei ihrer ersten stürmischen Begegnung ist es klar: Aimee hat die Stelle und darf auf der Ranch einziehen, auf der Sam wie ein Kind aufgezogen und unterrichtet wird.

Der Roman spielt zunächst auf zwei Zeitebenen, die sich einander nähern und schließlich treffen. Im einen Erzählstrang begleiten wir Guy, der in Moncriefs Forschungsprojekt tätig ist, sowie Aimee und Sam, zwischen denen sich schon bald eine vertraute Verbundenheit und einzigartige Beziehung entwickelt. Wir erfahren, dass er bei einem seiner „Affentheater“ eine junge Frau ins Gesicht gebissen hat, was das gesamte Projekt gefährdet. Aber es kommt noch schlimmer…

Zu Beginn des anderen Erzählstrangs begegnen wir Sam, der in einem Käfig eingesperrt ist und dem es mit einem Trick gelingt, auszubrechen…

Mehr möchte ich vom Inhalt nicht erzählen, weil ich die Spannung nicht vorwegnehmen und niemandes Lesevergnügen minimieren möchte.

T. C. Boyle spielt mit den Zeitebenen und Perspektiven, was den Roman noch spannender macht, als er aufgrund seines Inhalts ohnehin schon ist. Im einen Kapitel wird Sam fokussiert und wir erfahren, was er erlebt und wie er vermeintlich fühlt, im nächsten werden „die Anderen“, v. a. Aimee näher beleuchtet.

Wie im Roman „Die Terranauten“, den ich zuletzt von T. C. Boyle gelesen habe, hat der 1948 geborene amerikanische Schriftsteller auch hier wieder ein höchst interessantes wissenschaftliches Projekt ins Zentrum seiner Geschichte gestellt. Und wieder hat es sehr viel Spaß gemacht, dem Experiment in Gedanken zu folgen.

Ich empfehle diesen unterhaltsamen und packenden Pageturner, in dem viel Wissenswertes, Absurdes, Erstaunliches, Empörendes und Komisches steckt, sehr gerne weiter.

5/5⭐️

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