Del Amo, Jean-Baptiste: Tierreich

Der 1981 in Toulouse geborene Jean-Baptiste Del Amo erzählt in seinem eindringlichen und überwältigenden Roman „Tierreich“ die erschütternde, beklemmende und deprimierende Geschichte einer südfranzösischen Bauernfamilie über mehrere Generationen hinweg.

Der Roman beginnt 1898 und spielt am Fuße der Pyrenäen ganz in der Nähe des Örtchens Puy-Larroque.

In einer ärmlichen, zugigen und primitiven Behausung aus Holz und Lehm, durch dessen Wandöffnung Kühe ihre Köpfe hereinhängen, beobachten wir eines Abends eine kleine Bauernfamilie. Der wortkarge, schmächtige und drahtige Vater, der von Arbeit und Krankheit gezeichnet ist, wäscht sich, bevor er sich an den Abendbrottisch setzt. Die lieblose, kalte, schroffe, bigotte und abergläubische Ehefrau, kurz „Erzeugerin“ genannt, bringt das Essen auf den Tisch, verurteilt den kostspieligen Appetit ihrer Familie und ekelt sich vor dem Röcheln und Schmatzen ihres Mannes. Die fünfjährige Éléonore, die vor der Mutter kuscht, beobachtet still den Vater und nähert sich ihm zaghaft an. Während ihre Beziehung zur 33-jährigen Mutter angstbesetzt ist, verbindet Vater und Tochter ein zartes Band. Das Mädchen ist fleißig und brav. Ihre Aufgabe, die Tiere zu versorgen, erfüllt es pflichtbewusst und gern und Éléonore liebt es, fernab des heimischen Hofes im Eichenwald die Schweine zu hüten, was ihr ganz nebenbei auch Ruhe vor ihrer harten und abgebrühten Erzeugerin beschert.

Gleichzeitig und im weiteren Verlauf erfahren wir vom rauen und harten Alltag der Bauernfamilie und in Rückblenden, die gleichermaßen übergangslos wie geschmeidig eingeflochten werden, von familiären Hintergründen des Ehepaars und von Ereignissen aus der Vergangenheit, z. B. eindrücklich geschilderten Fehlgeburten und der Geburt von Éléonore, die mit der Nabelschnur um den Hals auf die Welt kam und in ihren ersten Tagen um ihr Leben kämpfte.

Da die Kräfte des Bauern zunehmend schwinden, wird der 18-jährige Neffe Marcel als Knecht auf dem Hof eingestellt. Er schlägt dem sterbenden Onkel eines Tages vor, die Schweinezucht auszubauen, weil das letztlich rentabler und weniger zeitaufwendig sei als der Getreideanbau.

Nachdem der Bauer verstorben, Marcel entstellt und traumatisiert aus dem ersten Weltkrieg zurückgekehrt, geheiratet und eine neue Familie gegründet worden ist, stirbt auch „die Erzeugerin“. Mit ihren Ersparnissen kaufen Marcel und Éléonore den Hof, Land und Tiere.

Dann machen wir einen Zeitsprung ins Jahr 1981.

Auf den nächsten Seiten werden abwechselnd Éléonore, ihr Sohn Henri, sowie dessen Söhne und deren Familien, die alle auf dem gleichen Hof, der inzwischen zu einer beeindruckenden Schweinezucht angewachsen ist, beleuchtet. Auf diese Weise lernen wir die letztlich zutiefst einsamen Charaktere und deren gnadenlosen und tristen Alltag immer besser kennen.

Es geht in dem Familienbetrieb nur noch um Produktivität und Effizienz und das Leid der einzelnen Figuren und Tiere, sowie die Unmenschlichkeit mancher Protagonisten ist manchmal kaum auszuhalten.

Wir stoßen beim Lesen des Romans auf Themen wie zerrüttete Familien, ruinierte Kindheiten, Bigotterie, feindselige Dorfgemeischaft, Homosexualität, Alkoholsucht, Krieg, Größenwahn, Habgier und Ausgegrenztheit. Nichts für den Liegestuhl am Strand!

In der bildhaften und z. T. derben und unverblümten Sprache und in den wunderschönen und manchmal poetischen Formulierungen des wortgewandten Schriftstellers spiegeln sich die raue Lebensrealität und die einfachen Verhältnisse der Familie wieder.

Sämtliche Alltagsszenen, egal ob eine Fehlgeburt oder Geburt, das Schlachten eines Schweins, das Mähen des Feldes und das anschließende Dreschen oder die Feierlichkeit des Johannisfeuers werden vom Autor derart anschaulich und detailverliebt beschrieben, dass man das Gefühl hat, ein Teil der Geschichte zu sein.

Nur ein Beispiel für seine Kunst, zu formulieren, möchte ich anführen: „…sein Körper, von dem die Krankheit indes gewissenhaft alles Fett und Fleisch abgenagt hat.“ (S. 8)

Ich bin beeindruckt von Del Amos präziser, bildhafter und eindrücklicher Sprache, sowie seiner Fähigkeit, unverblümt zu beschreiben und diverse Gefühle im Leser zum Leben zu erwecken, wobei dies v. a. Entsetzen, Empörung, Erschütterung, Ungläubigkeit, Ekel, Abscheu, Widerwille, Wut, Mitgefühl und Traurigkeit sind. Für Hoffnung, Freude und Optimismus ist kein Platz in dem Roman, der fesselnd auf ein fulminantes Ende zusteuert.

„Tierreich“ ist bereits der vierte Roman des vegan lebenden Tierschützers Del Amo, gleichzeitig ist es aber erst das erste Buch von ihm, das ins Deutsche übersetzt wurde.

Es ist keine leichte Kost, weil die menschliche und tierische Not unverhohlen und detailversessen geschildert und vor Grausamkeiten kein Halt gemacht wird.

Man sieht, hört und riecht alles genau so, als stünde man direkt daneben. Der Gestank, der Dreck, die Schufterei der Männer, die Einsamkeit und Not der Figuren… man erlebt es hautnah mit.

Für mich war diese intensive und ergreifende Lektüre eine Wucht und, obwohl so tragisch und düster, ein großartiges Leseerlebnis.

Die Lektüre ist so wie der Titel meines zuletzt gelesenen Buches: „Krass“.

Ich empfehle sie sehr gerne weiter.

5/5 ⭐️

🇫🇷

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.