„Writers & Lovers“ ist ein Roman über eine junge Frau, die ihre Mutter verloren hat, in einem Gartenschuppen wohnt, auf einem Schuldenberg sitzt, seit sechs Jahren an ihrem ersten Roman schreibt und von ihrem Freund verlassen wurde.
Das klingt deprimierend und vielleicht sogar abgedroschen und reizt erstmal nicht sonderlich zum Lesen.
Aber dank Elke Heidenreich, die das Buch empfohlen hat, habe ich dazu gegriffen und ich bin sehr froh darüber, weil es mir höchst vergnügliche Lesestunden bereitete.
Der Roman mit dem fröhlich-bunten Cover spielt 1997 in Massachusetts und erzählt vom ersten Satz an spritzig, lebendig und sarkastisch vom Leben der 31-jährigen Ich-Erzählerin Casey, die sich nach dem morgendlichen Erwachen erstmal strikt und konsequent sämtliche Gedanken verbieten muss: Gedanken an Geld, ihre Schulden, Sex, Luke, ihren Exfreund, und ihre verstorbene Mutter.
Anschließend führt sie den Hund ihres selbstverliebten Vermieters Adam Gassi, um Mietnachlass zu erhalten und wenn das erledigt ist, versucht sie, meist erfolglos, an ihrem Roman weiterzuschreiben, bevor sie sich mit ihrem Bonanzarad vom Sperrmüll Richtung „Iris“ aufmacht, dem Restaurant, in dem sie jobbt, um ihr finanzielles Desaster in den Griff zu bekommen.
Auf dieser Radfahrt durchs sommerliche Boston empfindet die seit einiger Zeit melancholisch-deprimierte Casey ein paar Glücksmomente. Sie würde gerne ihrer Mutter davon erzählen, aber das geht nicht, denn sie ist kürzlich völlig unerwartet mit erst 58 Jahren verstorben.
Casey nimmt beim Erzählen kein Blatt vor den Mund und bringt uns ihre Geschichte leichtfüßig, dynamisch und unsentimental näher.
Über allem schwebt ganz subtil eine Wolke aus Bedrückung, Ernsthaftigkeit und Schwermut, was angesichts Caseys Sorgen gut nachvollziehbar ist.
Sie trauert um ihre Mutter, sie vermisst Luke, den sie als Stipendiatin in einer Art Schreibwerkstatt kennen- und lieben gelernt hat, sie weiß nicht, wie sie ihr Konto ausgleichen soll und sie befürchtet, ihren Traum vom Schreiben aufgeben zu müssen.
Wir erfahren im Verlauf, dass Caseys Mutter wegen eines anderen Mannes die Familie verlassen hat, als Casey ca. 16 Jahre alt war. Danach lebte das Mädchen bei ihrem Vater und seiner neuen Partnerin und als ihre Mutter nach eineinhalb Jahren wieder in die Stadt zurückkam, zog Casey zu ihr. In der Zeit, in der ihre Mutter weg war und Casey sie so sehr vermisst hat, begann sie zu schreiben. In diesen eineinhalb Jahren entdeckte sie aber auch eine erschütternde Seite an ihrem Vater.
Es scheint, dass Casey nach der Highschool und dem Studium recht rast- und haltlos durchs Leben getingelt ist. Sie hat an vielen Orten gelebt, z. B. zwei Jahre bei Paco in Barcelona und ist diversen Jobs nachgegangen, z. B. in einer Fremdsprachenbuchhandlung.
Mit ihrer Mutter pflegte sie in all der Zeit der Unruhe einen guten und freundschaftlichen Kontakt. Meist per Telefon, seltener durch Besuche…bis sie im letzten Winter nicht aus ihrem Urlaub in Chile zurückgekehrt ist.
Inzwischen lebt Casey wieder in ihrer Heimat Boston, wo sie mutterseelenallein einen kleinen und müffelnden Gartenschuppen bewohnt und sich im Restaurant „Iris“ abrackert, um ihre Finanzen in Ordnung zu bringen.
Nach dem Ende mit Luke tauchen zwei neue Männer auf, zwischen denen sich Casey entscheiden sollte: der um 14 Jahre ältere Witwer und Schriftsteller Oskar und der gleichaltrige Lehrer Silas, der auch Schriftsteller werden möchte.
Beide Männer lernt sie an ein und demselben Abend kennen, als Oskar, ein ehemaliger Dozent an der Boston University, sein Buch präsentiert.
Die Entscheidung zwischen diesen beiden Männern fällt Casey nicht leicht. Jeder reizt sie auf seine Weise. Ob da wohl die Weisheit einer Kollegin weiterhilft, die der Überzeugung ist: „Wenn du genug Zeit auf der Rennbahn verbringst, dann erkennst du dein Pferd. Du erkennst es einfach.“ (S. 188)
Caseys Leben klingt nicht gerade prickelnd. Es klingt und ist sogar ziemlich trostlos. Die Geschichte zu lesen, ist aber überhaupt nicht trostlos oder deprimierend. Schon die Einblicke, die man in die Welt der Küche und Kellner bekommt sind äußerst interessant und amüsant. Es macht viel Spaß, Casey in ihrem Alltag zu begleiten und auch ihre Freunde kennenzulernen.
Wortgewandt und mit viel Witz erzählt uns Lily King diese Geschichte, die wohl von ihrem eigenen Erleben inspiriert ist. Sie beschreibt Personen, Szenen und Handlungsorte derart bildhaft und plastisch, dass sie vor dem geistigen Auge zum Leben erwachen.
Ich empfand den Roman, der zu keinem Zeitpunkt kitschig oder schnulzig, aber durchgehend unterhaltsam und zeitweise höchst interessant und auch informativ ist, als Ermunterung dazu, die Hoffnung nicht aufzugeben, seine Träume nicht zu begraben und die Angst vor deren Verwirklichung und der damit einhergehenden Verunsicherung vor Veränderung zu überwinden.
Manch‘ interessante und lebenskluge Gedanken und schöne Formulierungen ließen mich innehalten: „Gespräche in fremden Sprachen prägen sich mir nicht auf die gleiche Art ein wie Gespräche auf Englisch. Sie bleiben nicht haften. Sie sind wie der Stift mit der unsichtbaren Tinte, den meine Mutter mir zu Weihnachten schickte als ich 15 war und sie fort, eine Ironie die ihr entging, aber nicht mir.“ (S. 20)
„Mit jemandem die Liebe zu einem Buch zu teilen, stiftet eine ganz eigene, beglückende Art der Verbundenheit.“ (S. 57)
„Wie so viele Eltern wollte mein Vater mir die Möglichkeit verschaffen, die er selbst nicht gehabt hatte, damit ich das erreichen konnte, was er selbst nie erreicht hatte.“ (S. 119)
„Wie viel Kraft es gekostet hat, etwas in sich zu vergraben, merkt man erst, wenn man es wieder ans Licht holen will.“ (S. 168)
Ich staunte mehrmals fasziniert, wie scheinbar mühelos es der Autorin gelang, mich emotional auf Fährten zu locken, um mich kurz danach wieder mit unvorhergesehenen, aber völlig plausiblen und stimmigen Wendungen zu verblüffen.
Der Roman zieht den Leser mitten ins Leben hinein. Ins Leben der sympathischen, liebenswerten und etwas chaotischen Casey, die ihren Platz sucht und immer wieder aufsteht, wenn sie hingefallen ist.
Lily King gelang es auf wunderbare Weise, mir ihre Protagonistin so nahe zu bringen, dass ich zeitweise nicht nur das Gefühl hatte, sie zu beobachten oder zu begleiten, sondern in sie hineinzuschlüpfen. Ich spürte Caseys Angst aufgrund eines Krankheitsverdachts, ihre Zukunftsängste, ihre Versagensängste und ihre Hektik beim Bedienen der unzähligen Gäste, die ihre Wünsche nicht schnell genug erfüllt sahen. Ich spürte ihre Aufregung vor einem Rendezvous, das Kribbeln in ihrem Bauch bei einem Kuss und die Leichtigkeit und Gelassenheit im Umgang mit den beiden kleinen Söhnen von Oskar. Caseys Sorgen, Nöte, Wünsche und Träume nachzuvollziehen war ein Leichtes.
Ich empfehle diesen äußerst kurzweiligen und unterhaltsamen Roman, der durchaus auch höhere literarische Ansprüche befriedigt und keineswegs nur für die Hängematte geeignet ist, sehr gerne weiter.
Aufgrund meiner Begeisterung und Neugierde möchte ich bald Lily Kings hochgelobten Roman „Euphoria“ in Angriff nehmen, der schon in meinem Regal steht und „Lies mich!“ ruft.
5/5
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