Hadley, Tessa: Hin und zurück“

Tessa Hadley wendet sich in ihrem Roman dem mittleren Lebensalter, sowie den inneren Konflikten und familiären Spannungen bzw. der vermeintlichen Familienidylle zu.

Erst recht spät im Roman erfahren wir – und das ist kein Spoiler – dass Cora und Paul sich eines Tages vor drei Jahren im Zug nach London begegnen.

Cora ist auf dem Weg von Wales, wo sie das Haus ihrer verstorbenen Eltern renoviert, nach London, wo sie mit ihrem Ehemann Robert lebt.

Paul ist auf dem Weg von Wales, wo er mit seiner Familie wohnt, nach London, wo er seine Tochter aus erster Ehe besuchen will.

Die Beiden kommen ins Gespräch. Zwei völlig Fremde erzählen sich aus ihrem Leben und kommen sich näher. Zwei Leben überschneiden sich für kurze Zeit.

Im ersten Teil des Romans geht es um Paul. Er ist in seinen Vierzigern und trägt mit Schreiben, Rezensieren, Sprachkursen an der Uni und Übersetzen zum Lebensunterhalt seiner Familie bei.

Paul lebt mit seiner Frau Elise, die Antiquitäten restauriert und mit ihnen handelt und mit seinen Töchtern, der neunjährigen Becky und der sechsjährigen Joni, auf dem Land in Südwales.

Vor wenigen Stunden ist Pauls demente Mutter Evelyn im Heim in Birmingham verstorben und er, dessen Vater bereits vor 20 Jahren verstarb, muss sich nun um die Bestattung kümmern.

Als wäre das nicht genug, erhält Paul kurz darauf einen Anruf von seiner ersten Frau Annelies, die ihm mitteilt, dass ihre gemeinsame Tochter Pia seit einer Woche verschwunden ist.

Pia ist zwar schon fast 20 Jahre alt und hat bereits ein Studium in Greenwich begonnen, aber ihr abrupter und überstürzter Aus- und Umzug ist besorgniserregend, obwohl sie telefonisch bereits zweimal mitgeteilt hat, dass es ihr gut geht.

Paul fährt zu Annelies nach London, erfährt, dass Pia ihr Studium abgebrochen hat und macht sich auf die Suche nach ihr. Vor diesem Hintergrund durchlebt er eine Krise und landet kurzzeitig „in einem anderen Leben“.

Im zweiten Teil lernen wir die Mittdreißigerin Cora kennen. Sie ist eine Englischlehrerin, die ein Faible für Lesen im Allgemeinen und Lyrik im Besonderen hat.

Vor 10 Monaten hat sie London, ihren Job und ihren um 15 Jahre älteren Mann Robert, einen hohen Regierungsbeamten, verlassen.

Sie störte sich zunehmend an seiner Unemotionalität und Wortkargheit. Kommunikationsprobleme und Nebeneinanderherleben charakterisierten ihre Beziehung.

Außerdem hatte sie zu diesem Zeitpunkt wohl gerade eine depressive Phase hinter sich, in die sie wegen ihrer Kinderlosigkeit und dem Tod ihrer Mutter gestürzt war.

Cora ist nach der Trennung von ihrem Mann an ihren Geburtsort und in ihr lehrstehendes und nett renoviertes Elternhaus in Cardiff/Wales zurückgekehrt und arbeitet nun halbtags in der hiesigen Bibliothek.

Obwohl sie überqualifiziert ist, erfüllt und „beflügelt“ (S. 225) sie ihre neue Tätigkeit. Die Arbeit in der Bibliothek ist ihre „Zuflucht, die sie am Boden des Abgrunds gefunden hatte, in den sie gefallen war.“ (S. 225).

Es macht Freude, Cora in der Bibliothek über die Schulter zu schauen und sie in Ihrem Alltag zu begleiten.

Eines Tages erfährt Cora von ihrer Schwägerin Frankie, dass Robert, ihr Noch-Ehemann verschwunden ist. Sie macht sich auf die Suche.

Man bekommt einen guten Einblick in das Innenleben der nicht gerade einfach strukturierten Protagonisten. Ihr Handeln, Denken und Fühlen wird zwar glaubhaft geschildert, aber gleichzeitig war ich oft fassungslos und verfolgte deren Haltung und Handeln mit ungläubigem oder sogar leicht verärgerten Kopfschütteln.

Die 1956 in Bristol geborene Tessa Hadley erzählt unaufgeregt und gefühlvoll, aber gleitet zu keinem Zeitpunkt ins Kitschige ab. Sie schreibt packend, glaubhaft und kurzweilig über letztlich recht unspektakuläre Lebensgeschichten.

Mir gefiel ihre Sprache und ich konnte mich gut in diese psychologisch fein gezeichneten Geschichte hineinfallen lassen.

Immer wieder stieß ich auf wundervoll bildhafte, anschauliche und poetische Landschaftsbeschreibungen und schöne Formulierungen.

Ein paar Beispiele dazu:

„Der Weg schmiegte sich anfangs an das Flussufer, dann schlängelte er sich quer durch kleine Felder, aus deren Hecken lautes Vogelgezwitscher und Bienensummen drang. An den untersetzten, bitteren Schlehen rankten schneeweiße Blüten, die schmalen Buchenknospen waren zartes hellbraunes Leder, die noch blattlosen Eschen ließen ihre toten Rispen herabhängen. Eine der großen patriarchalen Buchen war in einem starken Sturm vor wenigen Wochen auf den Weg gestürzt, die nackten Wurzeln hochgereckt, während die Knospen am anderen Ende noch flimmerndes Leben vortäuschten. Auf Augenhöhe war das heimliche Loch eines Spechts zu sehen, und ein tiefer Riss im Holz des wuchtigen Baumstamms zeugte von dem Aufprall. Sie mussten hinüberklettern und bewunderten die dicken Falten in der Rinde, dort, wo die Äste nach außen drängten.“ (S. 29)

„ …unwillkürlich sah Paul Zeichen der Alterung auf ihren Gesichtern, die kleinen schlaffen Hautpartien um Mund und Kiefer, die Tränensäcke unter den Augen, den Beginn des Knitterns und Bröselns, das sie in ihre zerfallenden älteren Ichs verwandeln würde.“ (S. 48)

„Er empfand die Kinder als einen Segen, der die berauschende Unausgewogenheit eines verkopften Lebens ausglich.“ (S. 31)

„Unter seinen Liedern meinte sie die schnellen Bewegungen seiner tief in den Höhlen liegenden Augen beim Lesen zu sehen; er war ein Falke, der sich den Inhalt mit einem unerbittliche Schnabel aus dem Buch pickte.“ (S. 258).

Ein bisschen schade fand ich das offene Ende, bzw. die offenen Enden. Ich hätte gern erfahren, wie es mit Pia, Paul und Elise, sowie Cora und Robert weitergeht.

Aber das ist natürlich Geschmacksache. Hier kann man spekulieren und phantasieren 🙂

Trotz meiner beiden äußerst subjektiven Kritikpunkte, die nicht wirklich schwer ins Gewicht fallen, hat mich der Roman „Hin und Zurück“ sehr gut unterhalten. Ich empfehle ihn gerne weiter.

Tessa Hadleys Roman „Zwei und zwei“, der bereits im März 2020 erschienen ist, liegt schon bereit;-)

4/5⭐️

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