Dieser kurzweilige, unterhaltsame und interessante Roman des 1975 geborenen Schriftstellers Keiichirō Hirano ist 2018 in Japan erschienen.
Er ist das erste ins Deutsche übersetzte Werk des Autors, der 1998 als jüngster Schriftsteller den angesehenen Akutagawa-Preis gewann.
Wir lernen Rie, die Besitzerin eines Schreibwarengeschäfts in Miyazaki, kennen, deren friedfertiger und stiller, freundlicher, diplomatischer und beliebter, aber auch rätselhafter Mann Daisuke, ein Holzfäller, mit 39 Jahren von einer von ihm selbst gefällten Zeder erschlagen wird.
Rie hat bereits vor diesem traurigen Verlust großes Leid erlebt. Einer ihrer beiden Söhne aus erster Ehe verstarb mit 2 Jahren an einem Hirntumor, woran letztlich auch ihre Ehe zerbrach. Kurz nach diesem Unglück verstarb ihr Vater, weshalb Rie dann mit ihrem anderen Sohn zurück zu ihrer Mutter in die Heimat zog, um dort das elterliche Schreibwarengeschäft zu übernehmen.
Auf diesen ersten Seiten lernen wir aber nicht nur Ries tragisches Schicksal kennen. Wir erfahren auch, wie sie Daisuke, ihrem zweiten, inzwischen verstorbenen Ehemann, begegnet ist und wie sich langsam und leise Zuneigung und Freundschaft zwischen den beiden entwickelt hat.
Und dann kommt der Paukenschlag.
Ganz plötzlich und laut, nachdem die Geschichte bisher zwar flüssig, aber eher leise und reserviert erzählt wurde.
Trotz Daisukes Bitte, aufgrund eines Zerwürfnisses niemals Kontakt zu seiner Ursprungsfamilie herzustellen, informiert Rie nach dessen Tod seinen Bruder Kyōichi.
Als dieser anreist, sich vor dem buddhistischen Hausaltar niederkniet und das Bild des Verstorbenen erblickt, stellt er verwundert und erzürnt fest, dass es sich dabei nicht um seinen Bruder Daisuke handelt.
Die alleinerziehende Rie wendet sich in ihrer Ratlosigkeit und Verwirrung an den Rechtsanwalt Akira Kido, der vor Jahren als Scheidungsanwalt für sie tätig war.
Der Enddreißiger ist ein tiefgründiger, gutmütiger und freundlicher Mann, der gerade selbst Eheprobleme hat und mit seinem Leben hadert.
Vielleicht kann Kido Licht in die Angelegenheit bringen.
Vielleicht kann er herausfinden, wer der Verstorbene war.
In der Geschichte geht es um Identität und Identitätstausch. Der Autor spielt mit einer Idee, die sicherlich viele kennen:
Wie wäre es, in der Haut eines Anderen zu stecken und dessen Leben zu leben?
Kido hat koreanische Wurzeln, fühlt sich aber als Japaner. Er beginnt sich gezwungenermaßen mit seiner japanischen Identität auseinanderzusetzen, weil er zunehmend Diskriminierung und Gewalt gegen koreanischstämmige Menschen wahrnimmt und sich deshalb nicht zuletzt Sorgen um die Zukunft seines vierjährigen Sohnes macht.
Kann man seine Vergangenheit abstreifen und ein neues Leben beginnen, indem man seinen Namen ändert und mit einem anderen Menschen seine Vergangenheit tauscht?
Neben der fesselnden und tiefgründigen Geschichte der Protagonisten erfährt man einige interessante politische und gesellschaftliche Hintergründe.
Zum ersten Mal hörte ich von den sog. „Zainichi“, koreanisch stämmigen Japanern, die nicht selten unter Rassismus und Diskriminierung zu leiden haben und mit der Frage des Identitätstausches habe ich mich in der Literatur selten so intensiv und direkt konfrontiert gefühlt. Die Überlegungen des Anwalts Kido zum Thema Todesstrafe haben mich ebenfalls sehr zum Nachdenken gebracht.
„Das Leben eines Anderen“ ist eine unterhaltsame und sinnreiche Mischung aus Detektiv-, Gesellschafts- und Liebesroman in klarer, sachlich-nüchterner und ruhiger Sprache.
Der raffinierte Plot lädt einen dazu ein, über den Tellerrand hinauszudenken und fordert einen auf, konzentriert zu lesen, um sich im Verwirrspiel der Namen und Personen nicht zu verheddern.
4/5⭐️
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